TikTok heißt die neueste Hype-App.

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Fällt das Wort "Tiktok" in einer Konversation, gibt es meist als erste Reaktion ein Kopfschütteln oder Aufstöhnen – natürlich nur, wenn den Teilhabenden Tiktok überhaupt ein Begriff ist. "Peinliche Lipsync-Videos", dafür ist die chinesische Plattform am besten bekannt. Der Reiz und die wachsende Beliebtheit der App ist für viele unverständlich, doch ihre Bedeutung im Gefüge der sozialen Medien lässt sich nicht bestreiten.

So sehen viele Videos auf Tiktok aus – meistens werden Tanz- und Lippenbewegungen zu Liedern synchronisiert, doch die Fülle an verschiedensten Videoformaten ist umfangreicher als gedacht

Tiktok – Das neue Vine

Auch wenn sie sich neuartig anfühlt, bei Tiktok handelt es sich um keine brandneue App. Seit 2018 ist die Lipsync-App Tiktok in aller Munde – Grund dafür ist die Zusammenschließung von Musical.ly und Tiktok, aggressive Werbemaßnahmen und der besondere Aufbau der App, der die Entstehung von kreativen und unterhaltenden Kurzvideos sowie Trends und Challenges fördert.

Die 10 bis 60 Sekunden lange Kurzvideos – auch "Tiktoks" genannt – die auf der Videoplattform entstehen, sind längst nicht mehr ausschließlich für Nutzer Tiktoks relevant. Mittlerweile sind sie auf verschiedensten Plattformen, wie Twitter, Facebook und Instagram zu finden, wo sie auch erfahrene Internetnutzer zum Lachen bringen. Bis zu seiner Abschaltung 2017 sorgte die Twitter-Videoplattform Vine für virale Videoschnipsel. Diese Rolle scheint nun Tiktok zu übernehmen.

500 Millionen User – Plattform wächst rasant

Bytedance, die Firma hinter Tiktok, startete bereits 2016 eine Lipsync-App unter dem Namen "Douyin" in China. 2017 kaufte das Unternehmen die ebenfalls chinesische App Musical.ly, samt ihrer 90 Millionen registrierter User. Erst 2018 – genau vor einem Jahr – verschmolzen Musical.ly und Tiktok zu einer App. Laut Sensor Tower besitzt die Kurzvideo-App 500 Millionen User aus 150 Ländern.

Im Februar diesen Jahres knackte die chinesische App die Milliarden-Download-Marke. Von diesen Downloads wurden 663 Millionen wurden 2018 durchgeführt – zum Vergleich: Facebooks Downloadzahlen wurden letztes Jahr auf 711 Millionen geschätzt, Instagrams auf 444 Millionen.

Content-Konsum und Produktion im Fokus

Mit einer Reihe von Bearbeitungsmöglichkeiten macht Tiktok das Produzieren und Teilen von unterhaltenden Kurzvideos einfach. Besonders die Kreativität wird durch die simplen, aber ausgefallenen Tools gefördert. Schnell entstehen neue Trends, neue Challenges und neue Memes, die sich über verschiedenste Plattformen wie ein Lauffeuer verbreiten. Es ist dabei der Aufbau der App, der die Plattform von bereits existierenden sozialen Medien abhebt.

Öffnet man die Tiktok-App wird sofort klar, dass sich bei der Plattform alles um Videos dreht. Während Instagram die meisten Postings in quadratischem Format, zwischen Bildunterschrift, Username und Kommentare quetscht, erstrecken sich die Videos auf Tiktok über den ganzen Bildschirm – im Hochformat. Navigationsleisten und Videobeschriftungen werden über das Video eingeblendet. So werden bereits im Startbildschirm die Inhalte der App in den Mittelpunkt gestellt.

Die App startet sofort nach dem Öffnen mit einem Video, dass den ganzen Bildschirm füllt
Foto: Screenshot/Tiktok

Um auf der App zu browsen ist keine Anmeldung nötig, was bei Instagram und Facebook unvorstellbar wäre. Erst wenn man anderen Accounts folgen und Tiktoks speichern möchte, wird nach Email-Addresse oder dem Google-Account gefragt. Ohne wirklich sozial werden zu müssen, kann man sofort nach Installation der App in einem von zwei Feed-Versionen scrollen und Videos filmen.

Unendliche Feed-Weiten

Der Feed der Videoplattform ist eine simple, vertikale Wischgalerie, die es in zwei verschiedenen Ausführungen gibt: "Für Dich" und "Folge ich". Im "Für dich"-Feed werden Inhalte verschiedenster Nutzer durch einen Algorithmus ausgewählt. Ein wichtiger Parameter bei der Auswahl der Inhalte ist die Lokalität, was einen starken Kontrast zu Instagrams Discover-Seite setzt, dort werden vor allem internationale und auf die Interessen des Nutzer basierte Inhalte gezeigt. Scrollt man im "Für Dich"-Feed, erhält man Inhalte mit direktem Österreich-Bezug, und viel weniger Internationales. Im "Folge ich"-Feed erhalten Nutzer die neuesten Beiträge der Accounts, die sie abonniert haben.

Diese Wischgalerie hat Suchtpotenzial. Durch die Struktur des Feeds erhält der Nutzer einen unendlichen Fluss aus Videoschnipseln, der vom Betrachter nicht groß gefiltert oder sortiert werden muss. Anders als auf Facebook, gibt es keine Zeitungsartikel, die konzentriert gelesen und keine Urlaubsfotos von Freunden, die kommentiert werden müssen. Es folgt ein lustiges Video nach dem anderen – ist ein Video langweilig, wischt man einfach weiter.

Der Algorithmus der App stammt dabei, laut Basic Thinking, von der Nachrichten-App "Toutiao", ebenfalls ein Produkt von Bytedance. Das besondere am Auswahlverfahren ist, dass jedes Video, unabhängig von der Beliebtheit und Follwerzahl des Posters, ein Hit werden kann. Der Algorithmus bewerte nicht nur die Interessen des Nutzers, sondern analysiere auch Text-, Bild- und Musikinhalte, um zu bestimmen, ob der Beitrag interessant für den Nutzer ist, oder nicht.

Integrierte und kreative Video-Produktion

Nicht nur die Struktur der App unterscheidet sich deutlich von Facebook und Instagram – auch die Art und Weise, wie Inhalte produziert werden ist anders. Während YouTube Videos meistens aufwendig auf dem Computer geschnitten und Fotos für Instagram mit der Kamera fotografiert und außerhalb der App bearbeitet werden müssen, integriert Tiktok die Content-Produktion als festen Bestandteil der App und bietet dabei eine Reihe an Bearbeitungstools an.

Ihren Ursprung hatte Tiktok als Lipsync-App, die es Nutzern ermöglicht, ihre Videokreationen sofort zu teilen. Der Nutzer wählt dafür ein Musikschnipsel aus der Datenbank der App aus – ohne sie davor importieren zu müssen – und kann die Audiospur während der Aufnahme hören, um perfekt synchron Tanzmoves und Lippenbewegungen zu filmen.

So sieht die Video-Funktion der App aus – fügt man Musik hinzu, kann man aus einer Liste beliebter Sounds auswählen, oder die Datenbank nach passenden Aufnahmen durchstöbern
Foto: Screenshot/Tiktok

Das Video muss auch nicht großartig geschnitten und nachbearbeitet werden, denn der Nutzer kann einfach Abschnitt für Abschnitt filmen, um so mit Jumpcuts kommediale Akzente zu setze. Dabei können verschiedene Schnelligkeitsstufen und Effekte, wie AR-Filter und Distortions ausgewählt werden. So entstehen nicht nur Tanz und Lip-Sync-Videos, sondern auch lustige Skits und Schauspielszenen, die zum Beispiel mit Audiospuren aus bekannten Filmszenen unterlegt werden. Die Würze liegt bei den Videoschnipseln bei der Kürze – ähnlich wie bei Tweets.

Rasende Entwicklung von Trends und "Challenges"

Diese Palette an Bearbeitungsmöglichkeiten, die direkt auf der App verwendet werden können, fördert besonders die Kreativität der Plattform. Täglich entstehen neue Trends und Witze, die immer wieder von verschiedensten Nutzern neu aufgefasst und interpretiert werden. Häufig finden sich solche Trends als sogenannte "Challenges" oder Hashtags auf der Suchfunktions-Seite Tiktoks wieder.

Mit Hashtags werden die beliebtesten Trends der Plattform übersichtlich gemacht
Foto: Screenshot/Tiktok

Mit Challenge ist dabei keine Mutprobe gemeint, sondern in vielen Fällen ein gewisses Format, dass durch die Bearbeitungsmöglichkeiten Tiktoks entstanden ist, und nachgemacht werden soll. Beispiel dafür ist die "Dancing Cloths Challenge", bei der Tiktok-Nutzer Kleidung am Boden tanzen lassen. Oft erfordert das Erstellen eines solchen Videos ein gewisses Maß an Geschick.

Best TikTok Compilations

Ein weiteres Feature, das die Entstehung kreativer Videos fördert, ist die sogenannte "Duette"-Funktion. Mit dieser können Nutzer auf ein beliebiges Video antworten, ihren eigenen Schnipsel filmen und neben das existierende Tiktok einfügen. Im daraus resultierenden Duette werden beide Videos nebeneinander abgespielt. Dadurch entstehen Videos mit einer neuen Sorte Komik, die durch Kollaborationen entsteht.

Ein weiteres Beispiel für einen Trend ist die "Boy Swag Challenge". Der Name stammt von dem gleichnamigen Song des Sängers Soulja Boy Tell'em, der als Hintergrundmusik verwendet wird. In diesem Trend verwandeln sich Nutzer in bekannte Cartoonfiguren oder Charaktere aus Filmen und Serien.

The Invisible Astronaut

Es gibt auch zahlreiche Tutorials oder Videos, die die Entstehung von Kunstwerken im Schnelldurchlauf zeigen:

Ein weiterer Trend sind Videos, in denen sich Mädchen innerhalb eines Cuts in Jungs "verwandeln".

Makeup 2019

Im Zuge eines Memes knöpfen sich Tiktok-Nutzer Illustrationen der Tutorial-Webseite Wikihow vor, und versuchen die oft bizarren Bilder nachzustellen.

Kaum Marken, die Feed mit Content-Marketing überschwemmen

Ein weiteres Merkmal, das Tiktok von Instagram, Twitter und Facebook unterscheidet, ist der Mangel an Influencern, berühmten Schauspielern und Marken, die den Feed der Nutzer mit Corporate-Inhalten überschwemmen. Beinahe jedes Unternehmen hat einen Facebook, Twitter und Instagram Account, doch Tiktok ist im "Social-Media-Auftritt" der wenigsten Firmen enthalten. Bei den Inhalten, die man auf Tiktok findet, handelt es sich daher hauptsächlich um Videos von "normalen" Nutzern, und ein paar beliebten "TikTokern", die Momente aus ihrem Alltag teilen und nicht versuchen, sich selber als Marke zu präsentieren.

Was noch nicht ist, kann jedoch noch werden. Tiktok ist mit seinen 500 Millionen Nutzern nicht unattraktiv für den Werbemarkt. Fußballclubs wie FC Bayern München und FC Barcelona sind bereits auf Tiktok präsent. Auch bekannte Namen wie Netflix, Buzzfeed, und Playstation haben kürzlich begonnen, Accounts auf Tiktok zu eröffnen.

Werbeangebot "Hashtag-Challenges"

Neben Influencern und bezahlter Werbung setzt Tiktok auf die "Trendfähigkeit" der Seite, um mit Inhalten Werbung entstehen zu lassen. Dafür bietet Tiktok für Kunden sogenannte "Hashtag Challenges" an, in denen die Nutzer durch Sticker und Filter angeregt werden, Inhalte zu posten, die mit dem Produkt in Verbindung stehen. So wird die Bekanntheit für ein Produkt oder eine Marke erhöht. Ein Beispiel für eine solche Werbekampagne ist die von Kleidungsmarke "Guess" die die erste Partnerschaft dieser Art für Tiktok in den USA war. Nutzer wurden dazu bewegt, sich selber in Jeans zu filmen und dabei das #InMyDenim Hashtag zu verwenden.

Während Postings mit Werbe-Hashtags zu versehen keine bahnbrechende Marketingstrategie ist, sind die Challenges auf Tiktok meist von unterhaltender Natur. Eine aktuelle Kampagne ist die "Clean Snap Challenge" von Tiktok in Kooperation mit der Organisation Wings of the Ocean. Die Challenge besteht darin, einen verschmutzen und zugemüllten Ort zu filmen, zu schnippen und dann einen Jumpcut zum aufgeräumten Ort zu machen.

Aggressive Werbestrategie

Hinter dem Erfolg Tiktoks steckt jedoch nicht nur der Fokus auf Inhalte oder der süchtig machende Feed – auch eine aggressive und strategische Marketingkampagne ist für die Bekanntheit der App verantwortlich.

Im letzten Jahr war es beinahe unmöglich, die chinesische App im Internet zu übersehen. Besonders dort, wo sich die junge Zielgruppe von unter 20-Jährigen aufhält, waren Tiktok-Werbungen omnipräsent. Das chinesische Unternehmen Bytedance investierte in Werbeclips vor YouTube Videos und Video-Ads auf Facebook und Snapchat.

Auch Berühmtheiten wie Jimmy Fallon, Amy Schumer, Cardi B und einige Kardashians, sind maßgeblich für die Bekanntheit der App in den USA verantwortlich. Mit der "Tumbleweed Challenge" im November 2018, schaffte der Late-Night-Show Moderator Jimmy Fallon, seine Zuschauer zum Mitmachen und "Tiktoken" zu bewegen: In weniger als einer Woche wurden über 8.000 Tiktok-Beiträge mit dem Hashtag #TumbleweedChallenge versehen und mit diesen mehr als 10,4 Millionen Reaktionen generiert, berichtet Variety.

The Tonight Show Starring Jimmy Fallon

Im Zuge einer weihnachtlichen Spendenaktion (#CreateForACause) kollaborierte TikTok mit Berühmtheiten wie Khloe Kardashian, Vanessa Hudgens, Nick Jonas und Halsey, die alle eine handvoll Videos im Rahmen der Kampagne hochgeladen hatten. Außerhalb der Aktion nutzten sie Tiktok jedoch nicht weiter. So entsteht der Anschein, dass die Plattform von zahlreichen Celebrities verwendet wird.

Content wichtiger als Persönlichkeiten

Der Mangel an Stars, die auf Tiktok aktiv sind, unterstreicht den wahren Reiz der Plattform: der einzigartige Content, die bizarre Situationskomik und die kinderleichte Schaffung humorvoller Kurzvideos über alltägliche Anekdoten. Im Grunde kann Tiktok als eine Art Twitter in Videoform verstanden werden – ein soziales Medium, bei dem jeder ohne viel Aufwand Content-Produzieren kann.

Dass gerade deshalb die Qualität jedes einzelnen Beitrags nicht gewährleistet werden kann, ist klar, doch darum geht es bei Tiktok nicht. Auf dieser Plattform ist es einfach zu unterhalten und unterhaltet zu werden, und genau das kann als Alleinstellungsmerkmal des aufstrebenden sozialen Mediums gesehen werden. (Tiana Hsu, 15.09.2019)