Sterben, um richtig zu leben: Eurydice (Kathryn Lewek) setzt zum Flug an, ihre Daseinsfreude macht nur John Styx (Max Hopp, re.) traurig.

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Marcel Beekman (Aristée/Pluton) umgeben von Bienen an der Violine.

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Göttertreffen auf der XL-Couch: Max Hopp (John Styx), Lea Desandre (Vénus), Vasilisa Berzhanskaya (Diane), Martin Winkler (Jupiter) und Nadine Weissmann (Cupidon).

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Es sind Szenen einer zermürbten Ehe – und Schuld daran trägt die Musik. Recht eitel gezupft, wird die Geige bei Herrn Orphée zum Folterinstrument. Er drangsaliert Gattin Eurydice mit nicht enden wollenden Kantilenen und provoziert Affekthandlungen. Es zertrümmert die Gemahlin die Vierseitige; nein, im Diesseits wird das nichts mehr mit dem Mythenpaar. Bevor der Scheidungsrichter an der Tür klopft, um Ruhe zu erflehen, geht es jedoch ab in die Unterwelt.

Eurydice muss sterben, um zu leben. Dann aber heftig, was auch ihr scheintrauriger Geigengatte (solide Joel Prieto) und die ihn begleitende öffentliche, prüde Meinung erleben (eindrucksvoll Anne Sofie von Otter). Schon im Hier und Jetzt kein Kind von Traurigkeit, entpuppt sich die Verblichene ein paar Sphären tiefer als resolute Domina, deren Vitalität auch die Ketten damenhafter Klischees sprengt.

Erst kommt das Fressen

Vor ihrem grunzenden Hedonismus sind auch Früchte nicht sicher: Und ist die Wassermelone einmal gierig verschlungen, geht es rülpsend und röchelnd ins Reich der Träume. Stressig ist das süße Leben im Jenseitsparadies. Zumal Pluton, der sie herabgeholt hat, auch nicht das hält, was er als Oberweltliebhaber einst versprach (effektvoll und ausgelassen Marcel Beekman). Wie Eurydice so dahinschnarcht, wird sie allerdings von Unterweltbutler John Styx angeschmachtet. Und in seinem Sprech- und Sangesmonolog kehrt für einen intimen Augenblick melancholische Ruhe ein in die Regie von Barrie Kosky. Styx schwärmt nostalgisch von seiner früheren Existenz, es bleibt ein kurz rührendes Innehalten.

Der brillante Max Hopp (als Styx) wird durch einen Kunstgriff ansonsten zur zentralen Figur der heiteren Kosky-Horror-Show. Um den Sprechpassagen in Jacque Offenbachs Meisterstück einen dynamischen Dreh zu verleihen, delegiert sie Kosky allesamt an Hopp, während die Darsteller zu Pantomimen werden.

Übernimmt er Damenworte, erzeugt Hopp dadurch einen Travestieeffekt, den keine Verkleidung bewirken könnte. Auch der Sound knarrender Türen und beschlagener Schuhe ist beatboxartig bei Hopp gut aufgehoben. Er wird zum Obergag einer Höllenparty, deren große handwerkliche Präzision in die Steckdose des Slapsticks geraten ist.

Höchste der Gefühle

Wie es sich bei einer Varietéshow der grellen Laszivität gehört, ist dann fast jedes Pointenmittel recht: Hündchenartig wird nach Drinks gehechelt, quirlige Zungen sprechen Liebeseinladungen aus, Grimassen werden zu humorigen Rufzeichen und Geschrei zum Höchsten der Gefühle.

Und damit die Überdosis wirkt, wird jeder Schmäh ein paarmal wiederholt. Die Figuren mutieren so zu Marionetten der Überzeichnung, deren Mechanik Kosky bis zur Erschöpfung ausreizt. Daneben betört ein Bienchenballett, tanzen behörnte und beschwänzte Teufelsfiguren (Otto Pichler Choreografie), und es knattert das Totenbett unter Liebesmotorik, während Neptun als eine Art Hellboy herumläuft. Jupiter wiederum (eine humorige Bereicherung Martin Winkler) gibt sich nicht nur als notgeile Fliege. Er legt auch gerne aufpumpend Hand an sich selbst, um seiner Göttlichkeit das Vorspiel zu ersparen.

Und wenn es dann zur finalen Party geht, steht ein grüner Riesendämon (wie von Notre-Dame geliehen) als Zeuge der finalen Selbstbefreiung einer Frau. Das bunte Völkchen aus Himmel und Hölle hört andächtig Eurydices Bekenntnis zu Gott Bacchus, also zu einer dionysischen Existenz. Keiner legt sich mit ihr an.

Heitere Todesfolgen

Verständlich. Glaubhaft hat Kathryn Lewek Eurydices Lebensgier verkörpert und schließlich die anfängliche Rauheit ihrer Stimme in glanzvolle finale Spitzentöne verwandelt. Dieser virtuosen Operettenblödelei waren die Wiener Philharmoniker unter Enrique Mazzola ein kultivierter, nicht gerade überforderter Begleiter, der das angeschlagene Tempo mit noblem Klang umhüllte, wovon nicht nur der "Cancan" profitierte. Vielmehr auch die soliden Gesänge des Ensembles (u. a. Lea Desandre als Venus, Vasilisa Berzhanskaya als Diana und Frances Pappas als Junon).

Die heiteren Todesfolgen wurden frenetisch bejubelt. Fehlte nur noch der skandierte Wunsch, Kosky möge auch den nächsten Jedermann inszenieren. Wie auch immer. Werden die heurigen Salzburger Festspiele als große mythische Tragödie betrachtet, war dieser Ausflug ins Operettentotenreich ihr heiteres Intermezzo. (Ljubiša Tošić, 15.8.2019)