Paris – Es sind weder Astronauten noch Schutzengel, die seit Mitte dieser Woche in weißen Schutzanzügen auf der Pariser Stadtinsel in Aktion treten. Die Angestellten einer Reinigungsfirma versprühen ein Gel, um die bei dem Dachbrand der Notre-Dame-Kathedrale freigesetzten Bleipartikel zu binden. Auf dem Kopfsteinpflaster wird die blaue Masse sogleich wieder aufgesaugt, auf Parkbänken und an Laternenmasten nach drei Tagen.

Die Stadtpräfektur hat das neuartige Reinigungsverfahren für rund zehn Tage angeordnet, um der wachsenden Kritik aus der Bevölkerung etwas entgegenzusetzen. Das Bleidach der berühmten Basilika war bei dem Brand geschmolzen und hatte sich in feine, vom Wind verwehte Partikel aufgelöst. Im Mai schlug ein erster Anrainer Alarm, als im Blut seines Kindes erhöhte Bleiwerte registriert wurden. Der Präfekt empfahl Blutproben, unternahm aber sonst wenig. Räumungsarbeiter arbeiteten ohne Schutzmasken weiter.

Bleigrenzwerte weit überschritten

Erst im Juni teilte die Arbeitsinspektion mit, die Bleigrenzwerte würden auf der Baustelle bis zu 421-mal überschritten. Erboste Pariser erkundigten sich öffentlich, wie hoch die Bleikonzentration sein müsse, bis das Schwermetall das Nervensystem angreife. Die Umweltorganisation Robin des Bois (Robin Hood) reichte gegen die Regierung Klage wegen Personengefährdung ein.

"Binnen zwei Wochen hatten sich die 500 Tonnen Blei für die Behörden in Luft aufgelöst, weil sie den Eingang der Geldspenden nicht gefährden wollten", meinte Jacky Bonnemains von Robin des Bois. Viele Franzosen fühlten sich an das Reaktorunglück von Tschernobyl erinnert, als die Behörden in Paris wundersam angekündigt hatten, die radioaktive Wolke habe an der Grenze Frankreichs haltgemacht.

Der Arbeiter einer Reinigungsfirma trägt in einem Schulhof in Paris blaues Gel auf, das später wieder aufgesaugt wird, um Blei abzutragen.
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Der Vergleich mit dem russischen AKW mag übertrieben sein. Anrainer haben am Donnerstag aber auch die Dekontaminierung des entfernten Stadtparks Jardin du Luxemburg verlangt. In Paris werden etliche Schulen mit der Gelmethode gereinigt. In der Rue Verneuil etwa wird der ganze Hof eines Kindergartens neu asphaltiert, obwohl er einen Kilometer von Notre-Dame entfernt liegt. Er weist einen Bleiniederschlag von mehr als 1000 Mikrogramm pro Quadratmeter auf. Die Räumungsarbeiter in der Kathedrale erhalten nun Schutzmasken, wenn sie nächste Woche fortfahren, im Kirchenschiff Schutt abzutragen.

Straffer Zeitplan in Gefahr

Diese Arbeiten wurden wegen des Bleis für zwei Wochen unterbrochen. Das gefährdet den straffen Zeitplan, den sich Präsident Emmanuel Macron vorgenommen hat: Notre-Dame soll bis zu den Olympischen Sommerspielen von Paris 2024 wiedereröffnet werden. Der Wiederaufbau kann aber laut Architekt Philippe Villeneuve erst in einem Jahr beginnen.

Was nicht gereinigt werden kann, muss abgetragen werden.
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Das neue Erscheinungsbild der Kathedrale steht noch nicht fest. Macron hat die Wahl zwischen eher originellen Vorschlägen – Gewächshaus, Schwimmbad, Glasturm auf dem Kirchendach – und einer originalgetreuen Rekonstruktion. Die Opposition verdächtigt den Staatschef, er wolle sich selbst ein bauliches Denkmal setzen. Ungeklärt ist auch noch die Finanzierung. Von den 900 Millionen Euro an versprochenen Spenden sollen erst zehn Prozent eingetroffen sein. Die größten Beträge, darunter je 100 und 200 Millionen von zwei französischen Milliardären, sind aber fix zugesagt. Kleinere Geldspenden für Notre-Dame können seit Juli zu 75 Prozent von der Steuer abgesetzt werden. (Stefan Brändle, 15.8.2019)