Paul Lendvai, geboren 1929 in Budapest, lebt seit 1957 in Wien. Sein neues Buch "Die verspielte Welt" erscheint demnächst bei Ecowin.

Foto: Regine Hendrich

STANDARD: Wir haben diesen Sommer das sogenannte Annus mirabilis. Vor 30 Jahren ist der Kommunismus in Europa zusammengebrochen. Du hast ihn zuerst am eigenen Leib erlebt, in Ungarn, dann jahrzehntelang journalistisch beobachtet. Hast du diesen Zusammenbruch erwartet?

Lendvai: Ich habe überhaupt nichts erwartet. Es kam so schnell, es war nicht das Verdienst Ungarns oder der Polen, sondern in Russland brach das Regime zusammen. Die Zentrale der Macht hat dann alles aufgegeben, friedlich! Das ist das Verdienst von Gorbatschow. Das zeigt auch die Macht der Persönlichkeit in der Geschichte. Er hat wirklich geglaubt, er kann das System reformieren, er wollte es nicht aufgeben, aber er konnte nicht mehr zurück. Wir können ihm bis zum Ende unseres Lebens dankbar sein, dass er nicht zur Gewalt gegriffen hat.

STANDARD: Heute haben wir seit 20 Jahren Putin, einen autoritären Herrscher.

Lendvai: Jetzt haben wir wieder ein Russland Putins, ohne Ideologie, sogar ohne den Anschein, dass sie etwas in der Welt verändern wollen. Sie wollen nur die Macht und den Reichtum ungestört genießen.

STANDARD: In Moskau demonstrieren Zehntausende, weil sie bei den Kommunalwahlen faire Verhältnisse haben wollen. Aber bei uns gibt es Leute und eine ganze Partei, die das System Putin toll finden.

Lendvai: Das Paradoxe, Beschämende und Erschütternde ist, dass es nach 30 Jahren führende Persönlichkeiten gibt, die sagen, Russland sei eine lupenreine Demokratie, ehemalige österreichische Spitzenpolitiker, Ex-Kanzler, die bereit sind, für eine Remuneration in Aufsichtsräten aufzuscheinen. Da gibt es einen Menschen, der als Vorsitzender des Aufsichtsrates in unserer verstaatlichten Industrie saß und für einen russischen Oligarchen bei einem Autokonzern arbeitet, der uns ernsthaft gesagt hat, Russland sei ein Beispiel für die Organisierung der Wirtschaft. Diese Leute werden hier auch über die österreichische Wirtschaft und Politik mit großer Ehrfurcht zitiert und hofiert. Das ist eine alte Geschichte, es hat schon zu Anfang der Sowjetunion Leute gegeben, die aus Überzeugung oder für Geld das Loblied gesungen haben.

STANDARD: Wie erklärst du dir, dass sich so viele Industrielle und Topmanager für die neuen Autoritären in Osteuropa begeistern?

Lendvai: Es gab hier eine Rede von Viktor Orbán vor fünf, sechs Jahren. Einer der führenden österreichischen Bankiers, wir kennen ihn beide, hat gesagt: "Ja, ich weiß, Sie sind kritisch, aber Sie müssen schon zugeben, dass Orbán beeindruckend ist." Ich habe ihm geantwortet: "Möchten Sie bei uns ungarische Zustände haben?" Sie glauben, man kann alles haben, Disziplin und zugleich Wettbewerb und Freiheit. Manche Leute glauben, dass sie, wenn sie eine rechtsextreme Gruppe in Frankreich, Deutschland oder bei uns an die Macht bringen, ruhig weiterleben können. Sie glauben, sie können beides haben: autoritäre Verhältnisse und unser normales Leben.

STANDARD: Man staunt über die Fähigkeit zum Selbstbetrug vieler intelligenter Leute.

Lendvai: Diese scheinbare Ordnung hat eine unglaubliche Wirkung. Aber da kommt unser Beruf ins Spiel: Wir müssen immer sagen, was Tatsache ist, selbst wenn wir beschimpft und angegriffen werden. Jetzt ist Ágnes Heller gestorben, die in der ganzen Welt bekannt war wegen des Mutes, als Frau in einem Alter zwischen 80 und 90 Jahren ununterbrochen gegen dieses System Orbán anzuschreiben. Aus der Überzeugung heraus, dass das etwas Böses ist, gegen das man auftreten muss.
Unsere Rolle ist es, zu schreien, wenn wir das sehen. Das klingt jetzt sehr eingebildet, aber wir sind ein Maßstab. Ich brauche nicht mehr zu arbeiten, warum mache ich das also? Man darf nicht schweigen. Die Grundlage dieser Systeme ist nicht nur die Gewalt, sondern auch die Lüge. Das gehört zum Wesen dieser Systeme.

STANDARD: Nicht nur zum Wesen kommunistischer Systeme, auch zu dem rechter Systeme.

Lendvai: Ich kann mich erinnern, wie Kreisky mir gesagt hat: "Was wollen Sie, der Steger ist doch ein Liberaler." Na, wir haben gesehen, was daraus geworden ist.

STANDARD: Der Kommunismus wurde gestürzt, dafür haben wir jetzt in Osteuropa eine Reihe autoritärer Populisten. Kann man da nicht den Mut verlieren?

Lendvai: In jedem Land ist es anders. Auch unter dem Kommunismus waren die Länder verschieden, auch darin, wie viele von den eigenen Leuten sie umgebracht haben. Die Polen haben kaum jemanden umgebracht, die Tschechen, die Kulturnation, das war unglaublich, was sie gemacht haben, auch die Ungarn. Auch heute kann man nicht alle über einen Kamm scheren. Ich bin viel hoffnungsvoller in Bezug auf Rumänien als in Bezug auf Ungarn.

STANDARD: Dennoch steht die EU, steht Europa unter Druck.

Lendvai: Besonders besorgniserregend ist der Einfluss Russlands im Westen und in Mitteleuropa. Putin ist der Zerstörer Europas. Wir haben jetzt die Diktatoren und die Politclowns. Putin und Xi Jinping, gleichzeitig Trump und Boris Johnson. Unfassbar, diese gegenseitige Sympathie zwischen Putin und Trump. Da brauche ich keinen Mueller-Bericht, um zu wissen, wo wir stehen.
Russland steht im Vergleich mit dem Westen wie am Anfang des 20. Jahrhunderts. Es ist unfassbar, wie die Menschen leben, wenn man aus Moskau hinausgeht. Das ist wie in Ungarn. Es gibt eine Schicht von etlichen Zehntausend, denen geht es gut. Dagegen existiert in Ungarn ein anderes, besonderes System. Die Grenzen sind offen, du kannst Geschäfte machen, wenn du schweigst und die Steuern zahlst. Natürlich kann man das nicht mit dem Kommunismus vergleichen. Es ist ein kaschiertes, erträgliches autoritäres System. Aber es ist natürlich eine Tragödie für die Generationen, die dort leben müssen.

STANDARD: Du erwähnst in deinem neuen Buch "Die verspielte Welt" die Kampagne gegen George Soros. Wie schätzt du ihn ein? Ist es das Schicksal reicher, liberaler Juden, zum Hassobjekt zu werden?

Lendvai: Ich habe soeben ein Zitat von Gustav Mahler gelesen. Er hat gesagt, er ist dreifach Außenseiter: als Böhme in Österreich, als Österreicher in Deutschland und als Jude in der ganzen Welt. Bei Soros ist es auch eine tiefenpsychologische Sache, denn wenn jemand von Soros profitiert hat, dann Orbán selbst und seine engsten Mitarbeiter. Er war mit einem Soros-Stipendium in Oxford, und seine Partei hat Soros unter dem Kommunismus mit Kopiergeräten versorgt.
Ich persönlich bewundere Soros, weil er sein Geld nicht für Fußballmannschaften oder Balletttänzerinnen verwendet, sondern von Anfang an, als er "nur" 100 Millionen hatte, nur für Wohltätigkeit. Allein für Ungarn spendete er nach der Wende 400 Millionen Dollar und 500 Millionen extra für die Central European University, die jetzt nach Wien gehen muss. Orbán sagt zu Recht, nirgendwo seien die Juden so sicher, es gebe keine Ausschreitungen. Zugleich hat er neue Institute für organisiertes Lügen gegründet, die sagen, dass es nur die Deutschen waren, nicht die Ungarn, die die 450.000 Juden nach Auschwitz deportiert haben. Es ist, wie Ágnes Heller sagt: Sie vergiften die Seele des Landes.

STANDARD: Ist Orbán ein Antisemit?

Lendvai: Er ist nicht antisemitischer als der Durchschnitt, er ist ein hochbegabter, skrupelloser Zyniker. Er braucht zum Herrschen natürlich Feinde. 50 bis 60 Prozent der Ungarn glauben, dass Soros Migranten aus Asien und dem Nahen Osten hereinholen will. Es zeigt abermals die Rolle der Persönlichkeit, dass sich in Ungarn ein solch begabter Zyniker an der Macht halten kann.

STANDARD: Warum glauben die Menschen an Verschwörungstheorien?

Lendvai: Das gehört wohl zur Geschichte der Menschheit. Wenn eine Niederlage droht, persönlich oder in der Gruppe, braucht man Sündenböcke. Das ist das Beklemmende, wie das immer wieder unglaubliche Wirkung hat. Durch die moderne Kommunikation kannst du das in Windeseile verbreiten. Ich war 20-mal in den USA, ich war Gastprofessor, ich hätte das nie gedacht, dass die Leute, die uns befreit haben, die uns die Demokratie gebracht haben, dass die für diesen Mann Trump stimmen würden! Ich schließe nicht aus, dass sie ihn wieder wählen. Wir Journalisten führen wahrscheinlich einen aussichtslosen Kampf gegen das Böse. Wir reden vor allem zu Leuten, die wir nicht überzeugen müssen, weil sie ohnehin liberal sind.

STANDARD: Aber wenn wir sie nicht in ihrer Liberalität bestärken, verlieren sie den Mut.

Lendvai: Und es gibt immer den Zufall. Ibiza war ein Geschenk für die Demokratie und für jeden für uns. So etwas ist immer möglich.

STANDARD: Das ist die List der Geschichte.

Lendvai: Genau. Plötzlich ist alles anders. Oder jemand macht einen großen Fehler, was ja immer möglich ist. Wenn man Schnitzler oder Canetti oder andere Schriftsteller aus dieser Zeit liest, dann ist man froh, denn so schlimm wie damals ist es heute nicht mehr. (Hans Rauscher, 18.8.2019)