Hinter der Gothic- und Scheiß-drauf-Attitüde steckt höchste Perfektion: Billie Eilish, die Popentdeckung des Jahres, ließ bei ihrem ersten Österreich-Konzert keine Wünsche offen.

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Am Festivaleingang wittern Missionare ihre Chance. Ihr Büchlein mit dem Titel "Wie der skeptische Mensch bei der Frage nach Gott zu einer Antwort finden kann" streuen sie in einer Zeit unters junge Volk, in der 500 Jahre nach Magellans Weltumsegelung und 60 Jahre nach Juri Gagarins extraterrestrischer Erdumrundung der Planet mittels Taschentelefon nunmehr wirklich bis ins letzte Winkelchen vermessen wurde und die Lust an horizontaler Erweiterung wieder vermehrt der vertikalen Platz macht: "Näher, mein Gott, zu dir", "Über allen Gipfeln ist Ruh", "So hoch, was kann höher sein", aber: "Flieg nicht so hoch, mein kleiner Freund".

Hoch wie nie

Zweistöckig erhebt sich mittlerweile die VIP-Tribüne. Eine Kamera braust an einem Seil über die Massen hinweg. Meterhohe Bühnenanbauten umschließen wie überhängende Kletterwände das frühere Indie-Festival, das im 19. Jahr seines Bestehens immer mehr in Richtung von Elektronik-Events wie dem belgischen Tomorrowland-Festival schielt. Als neue Attraktion, die das gute alte, aber alte Riesenrad in den Schatten stellt, schuf man ein sogenanntes Galactic Fortress – eine Ritterspielburg für Basshengst und Discostute, die man einem Mayatempel gleich zwölf Meter hoch über eine Treppe des Todes erklimmt.

Oben angelangt, steht man vor der Entscheidung, ob man sich im Burghof unters einfache Partyvolk mischen oder von einem der vier Spähtürme auf ebenjenes Treiben gütig hinabblicken will. Am Nachmittag konnte man hier Techno-Yoga kombiniert mit unfreiwilligem Schwitz-Yoga praktizieren oder die schönsten abgetragenen Hawaiihemden von Mama und Papa aus den 1980er-Jahren präsentieren. Das Zeitalter von Schulterpolster, Wasserstoffblondierung und Ozonlocherweiterung vermittels Haarspray ist überhaupt seit einigen Jahren wegen seiner ehrlich nach weichmacherhaltigem Plastik riechenden Syntheziser-Humptata-Rhythmen auch in der Musik wieder stark nachgefragt.

"Manta Manta" mit Heckspoiler

Der aus Frankfurt stammende Rapper Finch Asozial hat jede Hemmung im Umgang mit der Jugend seiner Eltern abgestreift und ruft nun in atomar verseuchten Neonbuchstaben die Rückkehr der "Dorfdisko" aus. Optisch wirkt er wie aus dem Film "Manta Manta" entsprungen (nicht Til Schweiger, sondern der andere), musikalisch geht es – wenn einmal nicht deutscher Schlager oder Gigi D'Agostinos Jahrhundertstück "L'Amour Toujours" vom Band läuft – um Alphatiere ("Er ist der letzte echte Macho"), "Heckspoilermucke", Softpornografie oder auch a cappella um "Hurensöhne" wie den BVB und DJ Bobo sowie das politische Anliegen "Pyrotechnik ist kein Verbrechen".

Finch Asozial

Von dem offenkundigen Satireprojekt konnte man am Eröffnungstag des Frequency-Festivals gut hinüberkippen in ein Hallenkonzert der oberösterreichischen Band Flut. Dieser ist zwar 2017 im Schlagschatten von Wanda und Bilderbuch mit "Linz bei Nacht" samt zugehörigem "Kottan ermittelt"-Video ein kleiner Hit gelungen; letztlich steht man anders als Kollege Finch aber recht unentschieden vor der Frage, ob man das Konzept der 80er-Jahre-Retroband nun mit vollem Ernst und eigenständiger Handschrift betreiben oder sich als Blödlertruppe in schlecht sitzender Altkleider-Kostümierung einen Namen machen will.

Energiebündel im Basketballdress

Perfektioniert hingegen hat das Spiel mit den modischen Codes der Jungstar des Jahres, die erst 17-jährige Billie Eilish. Die Haarfarbe wechselt sie im Geiste des Grunge wöchentlich, Knallgrün mit schwarzen Micky-Maus-Öhrchen diesmal, schwarze Schminke, Nieten und Ringe leiht sie sich bei der Gothic-Kultur, dazu ein Basketballdress in Oversize: Zutaten, die man auch Eilishs Musik anhört. Launige, aber doch irgendwie bedrohlich dahinschnurrende Elektronikbeats mischt sie mit Hip-Hop-Elementen, Flüsterstimme und schönen Balladen aus der Horrorfilm-Abteilung.

Abgebrüht und ohne viel Bühnenschnickschnack begeisterte sie ihre mittlerweile alle Altersschichten abdeckende Fangemeinde durch bloße Präsenz. In jeder Regung, ob sitzend, liegend oder herumhopsend, war Energie, jeder Blick fand dankbare Abnehmer. Hinter der zur Schau getragenen Scheiß-drauf-Attitüde steckt dabei höchste Präzision.

BillieEilishVEVO

Zwischenzeitlich, so viel darf man sagen, fiel die Spannung auch einmal ab. Bei erst einem Album, auf dem sich mit "Bad Guy", "Bury a Friend" und "When the Party's Over" "nur" drei Hits befinden, soll das aber niemanden beunruhigen. Dass nach Billie Eilishs erstem und sicherlich nicht letztem Österreich-Konzert nur noch belangloses Radiogedöns zu hören war, spricht ohnehin Bände darüber, wem hier die Zukunft gehört. (Stefan Weiss, 16.8.2019)