In einer Betreuungsstelle nahe dem sozialen Hotspot Praterstern soll der Angeklagte sein angebliches Opfer getroffen haben.

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Wien – Seit dem Erfolg von TV-Serien wie "CSI" und "Medical Detectives" sind wahrscheinlich 98 Prozent der Bevölkerung überzeugt, Expertinnen für Kriminaltechnik zu sein. Und bräuchten bei einem Vergewaltigungsprozess wie jenem gegen Jiři S. nicht lange, um zu einem Urteil zu kommen. Schließlich wurde sein Genmaterial am Hals des Opfers Šárka F. gefunden. Vom Schöffengericht unter Vorsitz von Philipp Krasa wird er dennoch freigesprochen, da die Realität doch komplexer als das Fernsehen ist.

Der angeklagte Tscheche hat ein, wie es im Juristendeutsch heißt, "getrübtes Vorleben". Insgesamt sechs Vorstrafen hat er in seinem Leben schon gesammelt, fünf in seiner Heimat, eine in Österreich, im Jahr 2017.

Nun wirft ihm die Staatsanwältin vor, schon am 14. Mai 2016 in Wien ein Verbrechen begangen zu haben: Laut Anklage soll er mit zwei unbekannten Mittätern eine Landsfrau in einem Park gewaltsam zu Boden gebracht und zu vergewaltigen versucht haben. Als das Trio wegen der Gegenwehr der Frau flüchtete, stahlen sie ihr noch die Geldbörse und einen Schlüssel.

Genetische Spuren durch Kuss

"Wie wir von der Sachverständigen hören werden, fanden sich am Hals des Opfers die Spuren des Angeklagten, die wahrscheinlich bei einem Kuss entstanden sind", kündigt die Anklägerin in ihrem Eröffnungsplädoyer dem Senat an.

"Ich bin vollkommen unschuldig", lässt der von Romana Zeh-Gindl verteidigte Angeklagte dagegen übersetzen. Und überrascht dann mit einem Eingeständnis: Ja, er kenne die Frau, die ihn bei der Polizei aber nie als Angreifer identifiziert hat. Auf Krasas Nachfrage wird S. sehr konkret: Er kenne F. aus einer Caritas-Einrichtung am Praterstern, habe mit ihr auch gelegentlich Zärtlichkeiten ausgetauscht und sie dabei unter anderem bei mehreren Gelegenheiten auf den Hals geküsst. So müssten seine genetischen Spuren dorthin gekommen sein.

Auch den Vorwurf, er habe der Frau etwas weggenommen, weist er zurück: "Ich würde nie Freunde bestehlen!" – "Aber andere Leute bestehlen Sie schon?", fragt der Vorsitzende. Es folgt eine Antwort, die von Dario Fo stammen könnte: "Ich stehle nur in Geschäften."

Frau ist nicht auffindbar

Das angebliche Opfer von S. ist laut Krasa trotz monatelanger Versuche nicht auffindbar, daher sind Staatsanwältin und Verteidigerin damit einverstanden, dass ihre über drei Jahre alte Aussage verlesen wird. Die die von Zeh-Gindl bereits im Eröffnungsvortrag thematisierten Widersprüche enthält.

Den vernehmenden Beamten erzählte F. damals, dass sie am Tattag um 20 Uhr in Wien angekommen sei, um ihre Schwester zu besuchen. Die sei aber bereits abgereist gewesen, weshalb sie ziellos durch die Leopoldstadt wanderte. Gegen 22 Uhr sei sie in einem Park von drei Männern attackiert und in einem Blumenbeet zwischen Gladiolen und Lilien zu Fall gebracht worden.

Sie konnte auch eine recht genaue Beschreibung der Angreifer liefern: Es dürfte sich um Araber gehandelt haben, zwei trugen einen Oberlippenbart, einer hatte zusätzlich ein auffälliges Muttermal auf der Wange, ein anderer einen seltsamen Gang: "Er watschelte wie ein Pinguin." Von einem Kuss auf den Hals berichtete sie übrigens nichts, sie sagte lediglich, einer der Täter habe sie am Hals berührt.

Unversehrte Gladiolen und Lilien

Den Beamten kamen allerdings Zweifel an dieser Darstellung: Am angeblichen Tatort im Blumenbeet fanden sie keine Fußspuren, dafür die Pflanzen völlig unversehrt. Von einer nahen Überwachungskamera wurden zum fraglichen Zeitpunkt weder Frau F. noch drei Männer aufgezeichnet, die der Beschreibung der Zeugin entsprachen. Auch eine eigene Nachforschung von Krasa enthüllt eine Merkwürdigkeit: Eine Mitarbeiterin der Caritas kann definitiv sagen, dass F. und S. mehrmals gleichzeitig in der Betreuungsstelle gewesen sind.

Vielleicht kann also Sachverständige Christina Stein die Sache aufklären. Kann sie nicht. Sie stellt fest, dass am Hals von F. eine Mischspur sichergestellt wurde, die Material von F., dem Angeklagten und einer dritten Person enthält. Bei der Spur von S. tippt sie stark auf eine "Sekretspur", die also durch Körperflüssigkeit verursacht wurde. Die viel schwächere Spur der unbekannten Person könne durch eine Berührung zustande gekommen sein. Eine zeitliche Einordnung, wann die einzelnen Spuren entstanden seien, sei aber nicht möglich.

Die logische Folge: S. wird nicht rechtskräftig freigesprochen und auch gleich auf freien Fuß gesetzt. Der Senat ortet zu viele Widersprüche in der Aussage von Frau F. und könne daher nicht sagen, ob es überhaupt zu einem Vorfall gekommen ist. Noch viel unklarer ist, ob S. einer der Angreifer war. (Michael Möseneder, 16.8.2019)