"Gerne würde ich etwas sagen über das goldgelbe, bernsteinfarbene Licht, aber es fällt mir nichts ein": David Wagner.

Foto: Imago / Manfred Segerer

Was machst du denn hier, Freund?" Mein Vater steht neben dem Obststand am Hamburger Hauptbahnhof, hinter ihm ist das Schauspielhaus zu sehen. Er hat den Mantel über dem Unterarm, Koffer und Tasche zu seinen Füßen. Sein Haar ist weiß, fast lang, und seine Haut im Gesicht ein bisschen rosig. Er lächelt.

"Wir sind verabredet", sage ich.

"Ach ja? Und woher kommst du?"

"Aus Berlin."

"Mit der Bahn?"

"Ja, gerade eben."

"Und was machen wir?"

"Wir fahren nach Bonn, Papa."

"Mit dem Auto?"

"Nein, mit dem Zug."

"Brauche ich eine Fahrkarte?"

"Du hast schon eine. Sie steckt in deinem Portemonnaie. Jedenfalls hat Miriam mir das am Telefon gesagt."

Wie immer, wenn ich ihn sehe, wundere ich mich, dass er noch da ist, dass er doch noch da ist, dass es ihn noch immer gibt. Über Jahre, über zwei Jahrzehnte, haben wir uns kaum gesehen. Er hat sich nie sonderlich für mich und meine Familie interessiert – umgekehrt aber genauso, er war verheiratet, immer beschäftigt.

Ich möchte, dass er sich erinnert

Wir kaufen Äpfel und Mandarinen für die Fahrt und schlendern in die Buchhandlung im überfüllten Bahnhofsgebäude. Er möchte die Sonntagszeitung und den neuen Spiegel lesen, obwohl der zu Hause auf ihn wartet, er hat ihn noch immer abonniert. "Früher hast du ihn montagmorgens am Bahnhof in Andernach gekauft, abends habe ich ihn dir dann aus der Aktentasche geklaut", sage ich, weil ich möchte, dass er sich erinnert.

Unser Zug, ein Intercity, die Waggons sind unter der neuen Lackierung leicht verbeult, steht schon im Gleis. Meine Schwester Miriam ist sparsam und bucht immer die günstigste Verbindung, reserviert hat sie nicht. Wir finden zwei freie Plätze im Großraumabteil; mein Vater braucht Platz für seine Beine und setzt sich an den Gang, ich sitze lieber am Fenster.

"Wohin fahren wir?", fragt er. Der Zug hat sich noch nicht bewegt.

"Nach Bonn, Papa."

"Und wo sind wir gewesen?"

"Du warst in Hamburg. Bei Vivienne."

Er schaut mich fragend an.

"Bei Claires Tochter. Die letzten beiden Wochen. Sie hat dich nach der Beerdigung mitgenommen."

"Ach ja, sie wohnt in Hamburg."

"Ihr Mann, dein Stiefschwiegersohn, hat dich vorhin zum Bahnhof gefahren."

"Der Dings, wie heißt er?"

"Dirk."

"Stimmt. Er hat mich in seinem Range Rover gebracht. Der Hund war dabei, der verliert überall seine Haare."

"Weißt du, wie das heißt, wo du eben ausgestiegen bist?"

"Wie?"

"Kiss-&-Ride-Zone."

"Hätte ich ihn zum Abschied küssen sollen?"

"Unbedingt."

Er lacht. "Wohin fahren wir jetzt?"

"Nach Bonn."

"Und ich war in Hamburg."

"Ja, seit der Beerdigung."

"Seit welcher Beerdigung eigentlich, Freund?" Ich nehme seine Hand, die mir nun gar nicht mehr so groß vorkommt wie früher. Sie war mal riesig, jetzt fühlt sie sich an wie eine Kinderhand. Ich drücke sie, halte sie fest. "Claire ist doch gestorben, Papa. Deine zweite Frau. Viviennes und Jonathans Mutter."

"Die arme Claire. Und das war vor drei Wochen?"

"Ja."

"Nun ist mir schon die zweite Frau weggestorben. Ich muss ja schwer auszuhalten sein."

"Nein, eigentlich bist du ganz gut auszuhalten. Alle sind immer gern mit dir zusammen."

Der Intercity schiebt sich aus dem Bahnhof, die Waggons quietschen und ächzen, als hätten sie keine Lust auf die Reise. Hamburg zieht vorbei, wir überqueren die Norder- und die Süderelbe. Mein Vater schlägt die Sonntagszeitung auf und pflückt sie auseinander, er liest, aber ich weiß nicht, ob er wirklich liest oder sich nur ein Wort nach dem anderen ansieht und sich an dasjenige, das er gerade vor Augen hat, beim nächsten schon nicht mehr erinnert.

Ich vergesse leider alles

Nicht weit hinter Wilhelmsburg schäle ich die erste Mandarine und beiße in das Brot, das ich aus Berlin mitgebracht habe.

"Möchtest du probieren?"

"Was ist da drauf?"

"Käse."

"Nein danke."

"Eine Mandarine?" Er nimmt sich eine aus der braunen Papiertüte und lässt sie von einer Hand in die andere wandern.

"Ich vergesse leider alles", sagt er und zieht die Nase hoch.

"Nicht alles. Ein paar Dinge weißt du schon noch. Du weißt, wo du wohnst und wie deine Kinder heißen."

"Miriam und Hanna. Und du."

"Siehst du."

"Trotzdem, ich verblöde langsam. Tante Gretl hat gesagt, die Dublany sind sehr intelligent, im Alter aber werden sie alle blöd."

"Hat sie das wirklich gesagt? Es gibt in deiner Familie doch einige, die sind nicht verblödet. Und so alt bist du noch gar nicht, Papa. Du bist erst einundsiebzig!"

"Die Dublany sind sehr intelligent, im Alter aber werden sie alle blöd."

"Hast du kein Taschentuch, Papa?"

"Doch", sagt er, nimmt ein Stofftaschentuch aus der Hosentasche und schnäuzt hinein.

Seine Stofftaschentücher. Hatte er immer. Früher hingen sie auf der Wäschespinne im Garten, in mehreren Reihen, weiß und hellblau, manche mit Monogramm. Fünf Minuten später, wir rollen durch die Nordheide, muss ich ihn wieder an sein Taschentuch erinnern.

"Hoffentlich ist es nicht so kalt im Haus", sagt er. "Das Haus kühlt aus, weißt du."

"Du kannst doch ein Feuer im Kamin anmachen."

"Habe ich die Heizung abgestellt, als wir abgefahren sind?"

"Hast du bestimmt."

"Wie lange war ich weg, Freund?"

"Über zwei Wochen."

"Und wo war ich noch mal?"

"Bei Vivienne, deiner Stieftochter, in Ottensen."

"Ach ja. Stimmt." Er schaut in die Zeitung und dann wieder in meine Richtung.

"Und wohin fahren wir jetzt? Nach Berlin?"

"Nein, Papa. Nach Bonn."

"Zeig mal deine Uhr", sagt er und greift nach meinem Arm. "Das ist doch meine!"

"Die hast du mir geschenkt."

"Tatsächlich?"

"Vor über zehn Jahren."

"Richtig, ich konnte sie nicht mehr lesen. Jetzt fällt es mir wieder ein. Ich vergesse leider alles."

"Nicht alles. Noch weißt du, wo du wohnst und wie du heißt. Und wie deine Kinder heißen. Und deine Enkelkinder."

"Wie heißt deine Tochter noch mal?"

"Sie heißt Martha."

"Und wie alt sie jetzt?"

"Vierzehn, Papa."

"So groß? Hat sie schon einen Freund?"

Ich antworte nicht, sondern schaue aus dem Fenster. Die Norddeutsche Tiefebene ist aufregender, als ich dachte: Felder, Wiesen, Baumärkte, verfallene Bahnanlagen, Parkplätze, Kühe und Tankstellen wechseln sich ab. Mir fallen die Augen zu.

"Hier habe ich auch mal unterrichtet", sagt mein Vater, als wir in Bremen halten. Da ich nicht wusste, dass ein Zug, der von Hamburg nach Bonn fährt, auch in Bremen hält, greife ich nach dem Zugbegleiter, dem Faltblatt der Deutschen Bahn, das in der Netztasche des Vordersitzes steckt. Als ich feststelle, dass er in einen anderen Zug gehört, befrage ich mein Telefon.

Dein Telefon weiß das?

"Bevor wir nach Dortmund kommen, halten wir noch in Osnabrück und Münster", sage ich.

"Eine kleine Tour de Deutschland, Papa."

"Münster und Osnabrück klingen nach Dreißigjährigem Krieg", sagt er und zieht wieder die Nase hoch. "Und nach Westfälischem Frieden. Was für ein Telefon hast du da?"

"Ein iPhone, Papa."

"Und was machst du gerade?"

"Ich schaue nach, wo wir sind und wie wir fahren. Und wie es im Fußball steht."

"Dein Telefon weiß das?"

"Mein Telefon weiß alles."

"Weiß es auch, wo du bist, was du gestern gemacht hast und was morgen passieren wird?"

"Es weiß immer, wo ich bin. Deshalb weiß auch ich immer, wo ich bin, ich muss es nur befragen. Und fotografieren kann es auch, sieh mal!"

Ich mache ein Bild von ihm und zeige ihm dann neuere Fotos von Martha und andere, die ich in den letzten Wochen in Berlin und sonst wo aufgenommen habe.

"Ich glaube, ich kaufe mir auch so ein Telefon."

"Papa, du hast eins. Und ein iPad hast du auch."

"Ach ja? Wirklich? Wo?"

"Es liegt wahrscheinlich zu Hause. Du steckst es bloß nie ein."

Es ist schon dunkel, als wir in Bonn ankommen. Wir steigen aus, gehen die Treppe hinunter, auf der anderen Seite wieder hinauf und setzen uns in eines der beiden Taxis, die vor dem Bahnhof warten. Es regnet, der Scheibenwischer macht sein Scheibenwischergeräusch.

Als wir die Poppelsdorfer Allee hinunterfahren, sehe ich, wie viele Fenster erleuchtet sind an einem Sonntagabend im November. Gern würde ich etwas sagen über das goldgelbe, bernsteinfarbene Licht, das aus den Häusern auf die Straße fließt, aber mir fällt nichts ein.

Mein Vater, bisher war er still, wundert sich über die Route, die der Taxifahrer eingeschlagen hat, und verdächtigt ihn, Umwege zu fahren. Erst als wir auf der Autobahn sind, kennt er sich wieder aus. (Vorabdruck von David Wagner, "Der vergessliche Riese", 17.8.2019)