"Für Steve" gehen in Paris Menschen auf die Straße. Der 24-jährige Steve Maia Caniço war nach einem Polizeieinsatz bei einer Technoparty Ende Juni verstorben.

Foto: AFP / Martin Bureau

Nicht alle trauerten um die Macron-Abgeordnete Patricia Gallerneau, die im Juli nach langer Krankheit in La Roche-sur-Yon in Westfrankreich verstorben war: Drei Tage später verwüsteten Unbekannte ihr Wahlbüro. Es war die 15. Attacke auf ein Lokal der Regierungspartei La République en Marche – wie immer mit bedrohlichen Graffiti, Gelbwesten-Parolen oder zerstörten Büromöbeln.

Auf Gallerneaus Portal fand sich der Spruch: "Wahrheit für Steve". Das klang nach politischer Vergeltung: Steve Maia Caniço, ein 24-jähriger Bewohner aus Nantes, war Ende Juni nach einer Technoparty ums Leben gekommen. Er war mit mehr als einem Dutzend Festbesuchern kurzerhand in die Loire gesprungen – vermutlich, um einem Tränengaseinsatz der Polizei zu entkommen. Letztere hatte das bis vier Uhr früh bewilligte Fest um halb fünf beenden wollen. Ein interner Untersuchungsbericht der Polizeiaufsicht IGPN kam zum Schluss, dass der Einsatz "gerechtfertigt" gewesen sei. Wodurch, wurde nicht klar.

Caniços Tod wurde vollends zu einer Politaffäre, als Videomitschnitte Zweifel an der Polizeiversion weckten. Die sozialen Medien zogen Parallelen zu den Tränengas- und Wurfgeschoßeinsätzen bei den Gelbwesten-Protesten, bei denen seit November an die zwanzig Demonstranten ein Auge oder eine Hand verloren haben. Das Journal du Dimanche legte in seiner letzten Ausgabe mit mehr als hundert Zeugenaussagen nach, die den Schluss nahelegen, dass die Polizei Caniço und weitere Festbesucher regelrecht in die Loire gedrängt hatte.

Inbegriff überzogener Polizeigewalt

Steve ist auf jeden Fall zum Inbegriff überzogener Polizeigewalt geworden. Fast täglich werden neue Beispiele bekannt – diese Woche etwa das rabiate Vorgehen ziviler "Flics", also Polizisten, gegen junge Männer, die im Pariser Vorort Saint-Ouen des Drogenhandels verdächtigt wurden. Videos zeigen, wie sie auf die Weigerung eines Angehaltenen, sich auszuweisen, diesen mit Schlägen ins Gesicht brutal k. o. schlugen. Andere Festgenommene behaupteten, im Polizeiwagen seien ihre Genitalien mit Elektroschockpistolen malträtiert worden.

Polizeiliche Gewaltexzesse sind in Frankreich kein neues Thema. Diesmal machen sie aber sämtliche Versuche von Präsident Emmanuel Macron zunichte, unter den Franzosen Autorität und Vertrauen zurückzugewinnen. Auch Innenminister Christophe Castaner zeigt sich außerstande, die Lage zu beruhigen. Mit seinen Polizeieinsätzen stärkt er unfreiwillig selbst die Gelbwesten-Bewegung, die viel von ihrer Schlagkraft eingebüßt hatte, nachdem Präsident Macron 17 Milliarden Euro an Sozialgeschenken lockergemacht hat.

Rückenwind für Gelbwesten

Am vergangenen Wochenende gingen in Städten wie Montpellier, Bordeaux oder Toulouse immer noch gut tausend "gilets jaunes" auf die Straße. Sie versuchen, die Bewegung über den Sommer zu retten, um nach der politischen Sommerpause im September mit neuem Elan antreten zu können. Unterschriftensammlungen gegen die Privatisierung der Pariser Flughäfen und gegen das Freihandelsabkommen Mercosur zwischen der EU und Südamerika haben schon einigen Erfolg.

Mit ihren unüberlegten Angriffen, selbst auf verstorbene Macron-Abgeordnete, verlieren die "gilets jaunes" aber viel Rückhalt. Bürgermeister gleich welcher Partei klagen generell über die Verwilderung der Politsitten und die zunehmenden Attacken auf Lokalpolitiker. Im vergangenen Jahr wurden 361 Bürgermeisterinnen und Bürgermeister Opfer von Drohungen, Vandalismus oder anderer Gewalt.

Zu einem traurigen Höhepunkt kam es Anfang August im kleinen Provence-Örtchen Signes: Als Bürgermeister Jean Michel zwei Männer beim illegalen Schuttabladen in seiner Gemeinde erwischte und sich ihnen in den Weg stellte, wurde er schlicht überfahren. Macron würdigte Michels Kampf für die "Respektierung des Gesetzes" aus der Ferne. Viele Lokalpolitiker monierten aber, dass der Staatschef im nahen Sommerurlaub im Präsidialresidenz Fort de Bregançon geblieben war. Darin mischt sich auch eine grundlegende Kritik. Der Bürgermeister von Nizza, Christian Estrosi, erklärte zum Beispiel, die politische Kultur werde in Frankreich zunehmend aggressiver.

Polizei gießt Öl ins Feuer

Außer Frage steht, dass die oft rüden Proteste der Gelbwesten nach neun Monaten auf das politische Leben Frankreichs abfärben. Doch die plumpen Polizeieinsätze mit ihren regelmäßigen "bavures", also Schnitzern, sind ebenfalls Brandbeschleuniger.

Auch Macron lässt es an gebotener Gemessenheit vermissen, mit denen Vorgänger wie François Mitterrand oder Jacques Chirac die Bevölkerung zu beruhigen vermochten. Zu nachsichtig, wo Härte erforderlich wäre – etwa gegen die trittbrettfahrenden Krawallmacher des Schwarzen Blocks -, lässt es Macron gegenüber den authentischen Gelbwesten umgekehrt an sozialem Fingerspitzengefühl mangeln. So wächst in Frankreich das Gefühl eines abgehobenen Wahlmonarchen, der mit seinem eigenen Volk nicht zurande kommt. (Stefan Brändle aus Paris, 17.8.2019)