Im Gastkommentar appelliert Goran Buldioski, der Direktor des Berliner Büros der Open Society Foundations, die richtigen Lehren aus dem Paneuropäischen Picknick 1989 an der österreichisch-ungarischen Grenze nahe Sopron zu ziehen: "Wir müssen die Stärke und Energie zivilgesellschaftlicher Kräfte neu entfachen."

Illustration: Felix Grütsch

Vor 30 Jahren organisierten zivilgesellschaftliche Kräfte, also einfache Bürgerinnen und Bürger, ein Picknick an der Grenze zwischen Österreich und Ungarn und gaben damit einen wichtigen Anstoß für den Fall des Eisernen Vorhangs. Doch während Europa dieses Ereignis zu Recht feiert, schränken europäische Regierungen den Gestaltungsspielraum zunehmend für ebenjene Kräfte ein, die dieses historische Ereignis überhaupt erst möglich gemacht haben.

Das Paneuropäische Picknick gilt aus heutiger Sicht als ein entscheidender Wegbereiter für den späteren Zerfall des Ostblocks. Am 19. August 1989 wurde die Grenze für einige Stunden geöffnet – und mehrere Hundert Ostdeutsche flüchteten in den Westen.

Der Mut Einzelner

Immer wieder verweisen Politiker auf die Bedeutung dieses Picknicks. So erinnerte Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer Rede 2009, das Tor zur Freiheit sei damals "ein unumkehrbares Stück weit" geöffnet worden. Weitaus weniger Beachtung fand ein weiterer Satz Merkels, wonach sich Geschichte "aus kleinen, mutigen Schritten einzelner Menschen" zusammensetze. Dabei ist das der wesentliche Kern des Paneuropäischen Picknicks – in der Erinnerung und Würdigung kommt er allerdings oft zu kurz.

Stattdessen stehen Politiker und/oder die Rolle der Behörden im Fokus. Die treibende Kraft waren jedoch Bürgerinnen und Bürger, die bewusst das damit verbundene Risiko in Kauf genommen haben. Zivilgesellschaftliche Organisationen wie die Malteser und die Paneuropa-Union haben sich für die Mobilisierung der Bürgerinnen und Bürger stark eingesetzt. Es waren, wie Merkel richtig sagte, "kleine, mutige Schritte einzelner Menschen", die den Lauf der Geschichte nachhaltig verändert haben.

Erfolge würdigen

Viele Akteure haben rückblickend eine entscheidende Rolle beansprucht und die Geschichte des Paneuropäischen Picknicks zu ihrem Vorteil neu erzählt. Leider entsteht durch diese rückblickende Fokussierung auf einzelne Personen fälschlicherweise oft der Eindruck, eine homogene Herde ohne eigenes Denkvermögen sei blind einer Einzelperson oder einer Führungsgruppe gefolgt.

In diesem Sinne ist der Jahrestag eine richtige und wichtige Gelegenheit, die bedeutende Rolle zivilgesellschaftlicher Kräfte in friedlichen Demokratisierungsprozessen anzuerkennen und gleichzeitig die Erfolge und Veränderungen zu würdigen, die seit dem Ende des Eisernen Vorhangs erreicht wurden: Kein Mitgliedsstaat des Europarats hat im 21. Jahrhundert die Todesstrafe angewandt. In den osteuropäischen Staaten – bis auf Gegenbeispiele wie Ungarn – sind, wenn auch verbesserungswürdig, lebendige Medienlandschaften entstanden, Parlamente zu einem Ort des pluralistischen Meinungsaustausches geworden. Es finden Regierungswechsel statt, Parteien werben um die Gunst der Wählerinnen und Wähler, und die Gesellschaften lassen eine Meinungsvielfalt zu.

Hetzkampagnen und Einschüchterungen

Wir verlieren diese Errungenschaften oft aus den Augen, weil wir sie inzwischen als selbstverständlich erachten, oder aber weil wir uns stattdessen auf das konzentrieren, was noch immer beziehungsweise leider schon wieder im Argen liegt.

Es wurde und wird viel über die beunruhigenden Entwicklungen in Ländern wie Ungarn und Polen berichtet, die diese demokratischen Errungenschaften ernsthaft gefährden. Ich musste am eigenen Leib erfahren, was es bedeutet, wenn die Demokratie schrittweise abgeschafft wird. Im Rahmen meiner Arbeit bei den Open Society Foundations in Budapest wurde deutlich, dass unser Büro seine Tätigkeiten nicht mehr mit der notwendigen Unabhängigkeit, Sicherheit und Unversehrtheit fortführen konnte.

Auf persönlicher Ebene waren Mitarbeiter und auch ich selbst Hetzkampagnen und Einschüchterungen ausgesetzt. Das Zählen von antisemitischen Plakaten, die sich gegen unseren Gründer George Soros richteten, gehörte schon bald zu meiner alltäglichen Routine auf dem Weg zur Arbeit. Eine regierungsnahe Zeitung betitelte mich als "Soros-Söldner", während unabhängige Medien zunehmend zerschlagen wurden. Schlussendlich fällten wir im Vorjahr die Entscheidung, nach Berlin zu ziehen.

Die richtigen Lehren ziehen

Wir mussten Ungarn verlassen, weil der Gestaltungsspielraum für zivilgesellschaftliche Akteure zunehmend begrenzt wird. Doch wenn uns das Paneuropäische Picknick eins lehrt, dann ist es die Stärke und Bedeutung zivilgesellschaftlicher und bürgerlicher Kräfte. Ohne sie hätte dieses Ereignis, das wir heute, 30 Jahre später, als so entscheidend für den Verlauf der europäischen Geschichte feiern, nicht stattgefunden. Aber haben wir wirklich die richtigen Lehren daraus gezogen? Ich fürchte, wir haben vieles gelernt, aber nicht genug. Andernfalls würden wir diese Kräfte fördern und ihnen den Gestaltungsspielraum zugestehen, um solche Veränderungen anstoßen zu können. Zumindest aber würden wir nicht versuchen, sie mundtot zu machen.

Was könnten wohl zivilgesellschaftliche Akteure wie die, die vor 30 Jahren das Picknick organisierten, heute erreichen? Damals waren sie stark genug, um sich aus der Repression zu befreien. Heute sehen wir eine Vielzahl an Protesten im Osten und Westen der Europäischen Union, doch ihre Schlagkraft bleibt insgesamt begrenzt. Der Westen macht es sich zu leicht, wenn er sich darauf beschränkt, die Demokratisierung in den osteuropäischen Ländern weiter fördern zu wollen. Vielmehr sollten sich die westeuropäischen Staaten selbst kritisch hinterfragen, etwa ihre Rolle bei der Förderung autoritärer Führungsfiguren wie in Ungarn. Sie sollten Risse in ihren eigenen demokratischen Strukturen beseitigen.

Neue Repressionen

Die Realität sieht leider anders aus. Statt zivilgesellschaftliche Kräfte zu fördern, müssen wir mit ansehen, wie an zentralen Orten Europas neue Formen der Repression entstehen. In Spanien zum Beispiel, wo das 2015 erlassene "Gesetz zum Schutz der Bürger" die Meinungs- und Versammlungsfreiheit der Spanier massiv einschränkt. Oder in Frankreich, wo Bürgerrechte durch Antiterrorgesetze ausgehebelt werden. Oder Italien, das die Seenotrettung, um Geflüchtete vor dem Ertrinken zu retten, kurzerhand zur Straftat erklärt.

Solche Einschränkungen dienen als Musterbeispiele und Präzedenzfälle für illiberale Regierungen – zum Beispiel in Polen und Ungarn. Dies ist nicht das Europa der demokratischen Werte, mit denen sich die Politiker so gerne schmücken. Dies ist ein Europa, das seinen eigenen demokratischen Maßstäben gerecht werden muss – und dafür braucht es seine progressiven Bürgerinnen und Bürger.

Kräfte neu entfachen

Wir müssen die richtigen Lehren aus dem Paneuropäischen Picknick ziehen angesichts dieser Entwicklungen und der Risse in den Demokratien, insbesondere des Erstarkens rechtsextremer populistischer Strömungen überall in Europa und der Tatsache, dass etablierte rechtskonservative Parteien deren rechtsextreme Agenda übernehmen. Wir müssen die Stärke und Energie zivilgesellschaftlicher Kräfte neu entfachen, die ein solches Ereignis überhaupt erst möglich gemacht haben. Nicht um eine neue Revolution anzustoßen oder Mauern einzureißen wie vor 30 Jahren. Nein, heute brauchen wir diese Kräfte, um zu verhindern, dass neue Mauern entstehen – physisch und in den Köpfen.

Das Paneuropäische Picknick unterstreicht die Macht, die engagierte Bürgerinnen und Bürger für Demokratien und offene Gesellschaften entfalten können. Politiker in Ost- und Westeuropa sollten diese Kräfte vorantreiben, statt ihnen immer neue Steine in den Weg zu legen. (Goran Buldioski, 18.8.2019)