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Grundsätzlich ist es ja begrüßenswert, dass der Abschlussband von Ian McDonalds "Luna"-Trilogie nicht nur Glossar und Namensregister, sondern auch ein einleitendes "Was bisher geschah" enthält. Selbst damit wird jeder, der kein studierter Lunatiker ist, aber einige Anlaufzeit brauchen, um sich in der Unmenge an Protagonisten zurechtzufinden. Dies ist definitiv kein Buch für Neueinsteiger, unbedingt bei Band 1 beginnen! (Dass man sich in "Luna. Drachenmond" etappenweise auch ein "Was bisher geschah" für die Kapitel davor wünscht, steht wieder auf einem ganz anderen Blatt ...)

Magische Mischung

Ein Abschlussband bietet die Möglichkeit, über eine Reihe als Ganzes Bilanz zu ziehen. Die sieht hier so aus: Noch nie pulsierte der Erdtrabant so voller Lebenskraft wie in der "Luna"-Trilogie. Und der lunare Alltag wirkt für unsere europäischen Augen umso opulenter, weil hier der Mond von nicht-europäischen Initiativen kolonisiert wurde und sich die brasilianisch-ghanaisch-chinesische Mischung samt all ihren Ausstattungsdetails unendlich lebendiger anfühlt als die kargen Mondkolonien, die wir zuvor aus der Science Fiction gewohnt waren.

Dazu kommt der geniale Kontrast, der sich aus diesem mitunter schon fantasyesk anmutenden Ambiente und den Hard-SF-Elementen ergibt. In einer Passage im Anfangsteil von "Luna. Drachenmond" verdichtet sich dies besonders deutlich: Im Scheinwerferlicht eines Raumschiffs trifft da an der Mondoberfläche eine religiöse Prozession auf zwei Armeen, die aus Fußsoldaten in Schutzanzügen und einer "Kavallerie" auf Rovern und Staubrädern bestehen. Und eine Figur fühlt sich in eine andere Welt versetzt: Als kleines Kind hat Luna so etwas Ähnliches in einem verrückten Film von der Erde gesehen: Metallmänner, die mit langen Piken unter dem Arm auf großen Metalltieren saßen. Ritter in Rüstung, erklärt Linas Vertraute, die sich mit ihr erinnert. Ritter mit Lanzen.

Doch lässt uns McDonald nie lange in Traumwelten abgleiten. Zwar bewegt sich die Erzählung zumeist in den Kreisen des Mond-Adels. Aber kaum hat man im Prunk geschwelgt, werden mal wieder beiläufig die Icons erwähnt, die für die verbliebenen Reserven an Wasser, Sauerstoff und sonstigen Grundressourcen stehen und die jeder normalsterbliche Mondbewohner laufend auf seinem Display eingeblendet bekommt: Sie lassen ihn (und uns Leser) nie vergessen, dass man auf dem Mond jeden, der seine Versorgung nicht pünktlich bezahlt, einfach verrecken lässt.

Corta'sche Diaspora

Im Vorgängerband "Luna. Wolfsmond" haben wir miterlebt, wie Lucas Corta, neues Oberhaupt seiner Familie und damit einer der fünf großen Dynastien des Mond-Adels, blutige Rache dafür genommen hat, wie seiner Verwandtschaft mitgespielt wurde. Dafür hat er sich sogar mit einem Konsortium von Staaten und Unternehmen der Erde verbündet – was sich beizeiten noch rächen könnte, denn auf der Erde hält man wenig von der Unabhängigkeit ihres Trabanten.

Die Reste der Corta-Familie sind indes über den Mond verstreut wie die Starks über Westeros nach der Roten Hochzeit, und selbst in seiner neuen Position als Administrator (vulgo Mondadler) hat Lucas nur begrenzte Mittel, sie vor Feinden der Familie zu schützen. Immerhin: "Drachenmond" wartet mit einem befriedigend grauenhaften Ende für einen der beiden Hauptfieslinge der Trilogie auf.

Quo vadis, Luna?

Darüber hinaus dreht sich der Band aber vor allem um die Frage, was aus dem Mond in Zukunft werden soll. Da gibt es nämlich ganz unterschiedliche Konzepte: Die einen wollen ihn zum Techno-Hub des ganzen Sonnensystems machen, die anderen diskutieren einen neuen Kommunismus. Eine der Dynastien träumt davon, hier die Saat dafür anzulegen, mit der sich andere Welten terraformieren lassen – und die nächste von einer lunaren Zivilisation, die 10.000 Jahre lang stabil bleiben soll. "Diese Welt ist ein Labor, in dem Menschen mit Kulturen, Gesellschaften und Philosophien experimentieren", heißt es einmal.

All diesen hochfliegenden Plänen stehen freilich die Vorstellungen des irdischen Konsortiums entgegen. Das sieht die Zukunft des Mondes vollautomatisiert und damit ohne Bedarf für menschliche Bewohner – womit sich ein Kreis schließt, denn die zunehmende Verdrängung des Menschen aus der Ökonomie hat einst die Cortas zum Mond flüchten lassen, wie wir in Teil 1 der Trilogie lesen konnten. Setzt sich das nun fort? Oder werden sich die fünf Dynastien vulgo Drachen doch wieder zusammenraufen, um ihre Unabhängigkeit zu bewahren?

Zehn Prozent Handlung

Dieser Plot hätte freilich auch auf einem Zehntel des Umfangs untergebracht werden können. Doch arbeitet McDonald hier mit derart vielen Figuren, dass sich das nicht bis zu allen rumgesprochen hat. Und so tun die meisten halt das, was sie schon immer getan haben und am besten können: intrigieren, fechten, Cocktails schlürfen, Bossanova hören, schicke Retro-Klamotten anziehen und gleich wieder ablegen, um eine Runde genussnudeln einzulegen.

So wie sich in dem Riesenensemble weniger denn je wirkliche Hauptfiguren ausmachen lassen, so bleibt auch das, was wir als Kernhandlung sehen würden (oder möchten), nur ein Strang unter vielen. War "Luna" zu Beginn der Trilogie ein reißender Strom, so ist daraus nun ein breites Delta geworden: imposant anzuschauen und definitiv einen Besuch wert, aber auch fast bis zum Stillstand versandet. Schade, eigentlich. Aber man möchte halt schon wissen, wie's ausgeht!