Das Vereinigte Königreich wird einige große neue Ideen brauchen, schreibt Ökonom Richard Grieveson im Gastkommentar.

Das Vereinigte Königreich steckt seit drei Jahren in einer politischen Krise. Diese Krise wird sich wahrscheinlich noch verschärfen, bevor es besser wird. Obwohl die politische Volatilität große Aufmerksamkeit genießt, wird in der öffentlichen Debatte ein viel wichtigeres Thema aber weitgehend unbeantwortet gelassen: Wie wird das Wirtschaftsmodell des Vereinigten Königreichs nach dem Brexit aussehen?

Der Austritt aus der Europäischen Union wird die politischen Entscheidungsträger zu einigen schwierigen Entscheidungen über die zukünftige Wirtschaftspolitik des Landes zwingen. Doch nur wenige scheinen zu wissen, wie eng das britische Modell mit der EU-Mitgliedschaft verbunden ist. Es ist nicht klar, ob die politischen Entscheidungsträger den Ernst der Situation erkennen – und was sie zu tun gedenken.

Einst Topproduktionsmacht ...

Es ist lange her, dass Großbritannien die "Werkstatt der Welt" war. Noch in den 1950er-Jahren war das Vereinigte Königreich für ein Viertel der weltweiten Exporte des verarbeitenden Gewerbes verantwortlich – nach den USA auf Platz zwei. Bis weit in die 1960er-Jahre blieb es eine führende Produktionsmacht.

Dies änderte sich in den 1970er-Jahren aufgrund des Wettbewerbs durch immer anspruchsvollere ausländische Konkurrenten, der Ölschocks und der zunehmenden Handelsliberalisierung, die die Dominanz britischer Unternehmen auf dem Inlandsmarkt brach.

1973 machte das verarbeitende Gewerbe noch rund ein Drittel des britischen BIP aus, 2007 waren es nur noch zwölf Prozent. Für die Arbeitnehmer war der Zusammenbruch noch dramatischer: 1973 waren noch rund 35 Prozent der Arbeitnehmer im verarbeitenden Gewerbe tätig, 2007 nur mehr 9,5 Prozent. Dies war die Zeit der großen Abwanderung von Arbeitnehmern aus Minen und Fabriken in den Dienstleistungssektor.

... und attraktiver Standort

Als die aktuelle Welle dessen, was der Ökonom Dani Rodrik "Hyperglobalisierung" nennt – einschließlich einer massiven Zunahme der grenzüberschreitenden Kapitalströme -, begann, war das Vereinigte Königreich, das sich für ein neues Wachstumsmodell einsetzte, mit großem Enthusiasmus dabei. Der EU-Beitritt in den 1970er-Jahren, die Abschaffung der Devisenkontrollen im Jahr 1979 und das Massenprivatisierungsprogramm der Thatcher-Regierung in den 1980er-Jahren führten dazu, dass das Vereinigte Königreich in relativ kurzer Zeit zu einem äußerst attraktiven Standort für ausländische Investoren wurde. Es hat sich als ein Ort mit niedrigen Steuern, lockerer Regulierung und als Sprungbrett in den riesigen – und wachsenden – EU-Markt erwiesen.

Der Wandel in der Natur der britischen Wirtschaft war schnell und dramatisch. Steigende Kapitalzuflüsse und Einnahmen aus den neu entdeckten Ölfeldern begannen, einen großen Teil der Importe zu finanzieren. Nachdem das Vereinigte Königreich in der Vergangenheit ein Kapitalexporteur war, begann es ab Mitte der 80er-Jahre, große Leistungsbilanzdefizite zu verzeichnen. Seit 1985 ist die Nettoauslandsinvestitionsposition von einem Überschuss von 20,5 Prozent des BIP im Jahr 1985 (das heißt deutlich mehr Vermögen im Ausland als im Vereinigten Königreich) auf ein Defizit von aktuell 6,4 Prozent des BIP gesunken. Auch die Haushalte begannen, sich sehr stark zu verschulden. Sie sind inzwischen deutlich stärker verschuldet als Haushalte in Deutschland, Frankreich und Italien.

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Boris Johnson will den EU-Austritt Ende Oktober, "komme, was wolle". Ein No-Deal-Brexit würde schwerwiegende Nachteile für die Wirtschaft bedeuten.
Foto: Reuters/ Julian Simmonds

Das Modell führte zu erheblichen Verzerrungen in der Wirtschaft. Seit 1995 weist das Vereinigte Königreich die niedrigste durchschnittliche Investitionsquote aller EU-Mitgliedstaaten auf (17 Prozent des BIP, gegenüber 24 Prozent in Österreich). Im gleichen Zeitraum hatte es einen der höchsten Anteile privater Haushaltsausgaben am BIP (63 Prozent im Vergleich zu 52 Prozent in Österreich) und den drittniedrigsten Anteil der Warenexporte am BIP (16 Prozent, nur vor Griechenland und Zypern). Es handelt sich also um eine Wirtschaft, die sich aus der Zukunft – und vor allem vom Ausland – leiht, um heute zu konsumieren.

Bis zu einem gewissen Grad funktionierte dieses Modell recht gut. In den vergangenen 20 Jahren ist unter den großen EU-Wirtschaften nur Spanien schneller gewachsen. Diese scheinbar beeindruckende Wachstumsrate verschleiert jedoch eine eher mittelmäßige Realität. Pro Kopf, bereinigt um das Preisniveau, hat sich das Vereinigte Königreich seit 1999 deutlich schlechter entwickelt als Deutschland. Auf dieser Basis ist die Leistung vergleichbar mit Frankreich, dem Land, das in den rechten Medien Großbritanniens tendenziell das Opfer von Witzen über die angeblich schwachen kontinentalen Volkswirtschaften ist.

Schwache Produktion

Ein besonderes britisches Problem ist die Produktivität. Um das gleiche BIP wie die Franzosen und Deutschen zu erzielen, müssten die Menschen im Vereinigten Königreich mehr Zeit in der Arbeit und weniger mit ihren Familien oder bei Freizeitaktivitäten verbringen. Diese Produktivitätsschwäche geht auf das Wachstumsmodell nach den 1970er-Jahren zurück. Wie der Ökonom Simon Tilford vor einigen Jahren beim Vergleich des Vereinigten Königreichs mit Frankreich und Deutschland feststellte, sind insbesondere niedrige Qualifikationen bei einem großen Teil der Arbeitskräfte, eine dürftige Infrastruktur, der Mangel an erschwinglichem Wohnraum und die Zentralisierung aller Aktivitäten in London zu beobachten.

Das neue Wachstum, das in den späten 1970er- und frühen 1980er-Jahren geschaffen wurde, war außerordentlich erfolgreich, um japanische, US-amerikanische und andere ausländische Unternehmen davon zu überzeugen, ihr Geld in Großbritannien zu investieren. Sie taten dies aber nicht aus Nächstenliebe, sondern wegen einer hohen Offenheit für ausländische Investitionen, politischer Stabilität und einem reibungslosen Zugang zum riesigen EU-Markt.

Schlampiger Thatcherismus

Jetzt, da all diese Faktoren am Verschwinden sind, wird das Vereinigte Königreich einige große, neue Ideen brauchen. Die Pläne von Premierminister Boris Johnson für die Wirtschaft – zusammengefasst als "Singapur an der Themse", mit niedrigen Steuern und geringer Regulierung – sind eine schlampige Überarbeitung des Thatcherismus. Aus den oben genannten Gründen wird dies nicht funktionieren. Der Brexit und der jüngste Nervenzusammenbruch der konservativen Partei dürften nur der Anfang der Probleme des Vereinigten Königreichs sein. (Richard Grieveson, 19.8.2019)