IBM hat ein KI-System entwickelt, das vorhersagt, welcher Mitarbeiter das Unternehmen in den nächsten sechs Monaten verlassen will. Das Programm soll eine Genauigkeit von 95 Prozent haben.

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In einem großen Unternehmen kommt es immer wieder zu Fluktuation. Mitarbeiter gehen, verabschieden sich in Bildungskarenz oder nehmen ein Sabbatical. Für die Personalabteilung bedeutet das einen hohen organisatorischen Aufwand. Stellen müssen neu besetzt, andere zusammengelegt werden. Laut einer Untersuchung der Society for Human Resource Management kostet es durchschnittlich 4.425 Dollar, einen Mitarbeiter zu ersetzen. Bei einer Führungskraft belaufen sich die Kosten für den Bewerbungsprozess sogar auf knapp 15.000 Dollar. Klar, dass Unternehmen ihre besten Leute um jeden Preis halten wollen.

Der Technologiekonzern IBM hat nun ein KI-System entwickelt, das vorhersagt, welcher Mitarbeiter das Unternehmen in den nächsten sechs Monaten verlassen will. Das System, das mit dem Supercomputer Watson entwickelt wurde, soll in der Lage sein, mit einer Genauigkeit von 95 Prozent wechselwillige Mitarbeiter zu identifizieren.

Das Tool, das IBM im internen Personalverkehr verwendet, aber auch verkauft, soll tausende von Datenpunkten analysieren und Managern aktiv Ratschläge unterbreiten. Noch bevor der Mitarbeiter seine Kündigung einreicht, soll die KI das Management über die Wechselabsichten unterrichten. Der Vorgesetzte könnte den wechselwilligen Angestellten dann mit einer Gehaltserhöhung oder anderen Benefits von einem Verbleib überzeugen.

Kaffee per Drohne

IBM beschäftigt weltweit 350.000 Mitarbeiter und erhält täglich 8.000 Bewerbungen. Wie Konzernchefin Virginia Rometty auf einer Konferenz des US-Senders CNBC im April mitteilte, hat der Konzern ein Drittel seiner Personalabteilung durch KI-Systeme ersetzt. IBM setzt darauf, dass Maschinen den Menschen besser verstehen als dieser sich selbst.

Die automatisierte Betreuung geht sogar einen Schritt weiter: Der Tech-Konzern hat im vergangenen Jahr ein Patent für eine Technik angemeldet, bei der eine Drohne müden Mitarbeitern Kaffee serviert. Das mit Kameras und Sensoren ausgestattete Flugobjekt, dessen integrierter Rechner mit Schlaf- und Fitnessdaten gefüttert wird, soll anhand der Pupillenreaktion die Müdigkeit des Angestellten erkennen und auf dieser Grundlage den Kaffeebedarf errechnen. Damit sollen die Mitarbeiter wacher und produktiver werden.

Personalsoftware à la Netflix

Unternehmen versuchen schon seit einiger Zeit, frühzeitig wechselwillige Mitarbeiter zu identifizieren. Der US-Softwarehersteller Workday hat bereits 2015 ein Computerprogramm entwickelt, das eine Wahrscheinlichkeit für einen Jobwechsel berechnet. Die Software wühlt sich durch riesige Datenberge und analysiert dabei Variablen wie die Zeit zwischen Beförderungen, die Zeit beim aktuellen Arbeitgeber sowie die Zahl der Jobfunktionen. Diese Daten kombiniert die Software mit Ausschreibungen auf Stellenportalen und errechnet aus der Passgenauigkeit von Qualifikationen und Stellenprofil ein Wechselrisiko.

Die App, die von einem ehemaligen Datenwissenschafter von Netflix entwickelt wurde, ist nach dem Empfehlungsmechanismus des Streamingdiensts modelliert. So wie der Netflix-Algorithmus Filme vorschlägt, empfiehlt die Personalsoftware Handlungsschritte, um die Belegschaft bei der Stange zu halten. Loyalität ist heute eine Frage von Daten. So fand eine Untersuchung der Beratung Mercer unter 11.000 Beschäftigten aus dem Jahr 2009 heraus, dass der Montag mit 35 Prozent der häufigste Fehltag ist. Darauf folgte der Dienstag mit 23 Prozent. Freitags fehlen Mitarbeiter am seltensten – obwohl man meinen sollte, dass die Aussicht auf ein verlängertes Wochenende verlockend wäre.

Laut Arbeitsmarktexperten folgen Krankheitstage bestimmten Mustern, die von der jeweiligen Jahreszeit abhängen. Abweichungen davon sind verdächtig. Eine auf Mustererkennung trainierte KI kann solche Anomalien in großen Datenmengen relativ leicht feststellen. So setzte der East Sussex County Council in Großbritannien 2010 ein Programm ein, mit dem die Fehlzeiten in der öffentlichen Verwaltung signifikant reduziert werden konnten.

Mittlerweile gibt es eine ganze Reihe von Monitoring-Software, die analysiert, wie Angestellte ihre Computer nutzen, welche Browser- oder Tastatur-Angewohnheiten sie haben – und daraus Regelmäßigkeiten beziehungsweise Unregelmäßigkeiten ableiten. Die Investmentbank Barclays ließ unter den Schreibtischen ihrer Mitarbeiter sogar Bewegungsmelder installieren, die mit Wärme- und Bewegungssensoren erkannten, ob jemand gerade an seinem Platz sitzt.

Datenschutz

Die Frage ist, welche Daten Unternehmen bei der Analyse ihrer Mitarbeiter heranziehen. Vorstellbar wäre, dass man den Browserverlauf von Mitarbeitern analysiert und Webseitenaktivitäten etwa auf Stellenportalen trackt, was datenschutz- und arbeitsrechtlich problematisch wäre. Laut einem Bericht der "Washington Post" greift IBM nicht auf E-Mails, externe Social-Media-Accounts oder interne Mitteilungen zurück. Andere scheinen sich darum weniger zu scheren. So screent das Start-up hiQ Labs öffentlich zugängliche Linkedin-Profile, um Stellenwechsel zu prognostizieren.

Auch aus den Metadaten von E-Mails lässt sich einiges über die Motivation der Mitarbeiter ablesen. Der Analyst und Personalexperte Josh Bersin hat auf seinem Blog eine Netzwerkanalyse von E-Mails vorgestellt, die bestimmte Kommunikationsnetze sichtbar macht. Während High Performer einfachere Wörter in die Betreffzeile schreiben und schneller antworten, kommunizierten unzufriedene Mitarbeiter in den sechs Monaten vor ihrem Jobwechsel deutlich weniger. Zwar können solche Big-Data-Analysen einen Hinweis auf Wechselabsichten geben. Einen Kausalzusammenhang gibt es aber nicht.

Die Frage ist auch, wie der Vorgesetzte einen Mitarbeiter ansprechen soll, bei dem die Software eine Wechselabsicht errechnet hat. Man kann ja schlecht sagen: "Der Computer sagt mir, dass du gehen willst!" Die Personalverantwortung kann einem die Maschine nicht abnehmen. Hier braucht es am Ende immer noch Fingerspitzengefühl. (Adrian Lobe, 20.8.2019)