Der Honor TV ist das erste Gerät mit "Harmony OS". Zumindest offiziell. In der Realität hat das, was dort ausgeliefert wird, mit einem neuen Betriebssystem praktisch nichts zu tun.

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Wie geht es mit Huawei weiter? Eine Frage, die seit der Verhängung eines Handelsbanns durch die US-Regierung als Damoklesschwert über dem chinesischen Unternehmen hängt. Immerhin verbietet dieser US-Unternehmen jegliche Zusammenarbeit mit Huawei. Zumindest theoretisch, denn bisher sind diese Maßnahmen noch gar nicht vollständig schlagend geworden, gilt doch eine neunzigtägige Ausnahmeerlaubnis, die Google, Intel und Co. zumindest ein gewisses Minimum an Kooperation genehmigt. Diese Frist endete am Montag. Statt einer echten Lösung – wie sie US-Präsident Donald Trump schon vor einigen Wochen angekündigt aber nie umgesetzt hatte – geht es aber genau so unsicher weiter wie bisher. Das heißt: die Ausnahmeregelung wird einfach um weitere 90 Tage verlängert.

Huawei hat ein Problem

Eine Situation, die für Huawei natürlich alles anders als optimal ist. Stellen solche temporären Gnadenfristen doch keine Situation dar, mit der man langfristig planen kann. Eines der größten Probleme für das Unternehmen ist dabei, dass man für jedes neue Android-Gerät samt Play Store eine offizielle Lizenz von Google braucht. Eine solche kann Google aber eben nur dann erteilen, wenn es dem Android-Hersteller erlaubt ist, Geschäfte mit Huawei zu führen – eben das, was die Anordnung des Handelsministeriums untersagt. Doch auch die Kooperation mit Firmen wie Intel, Broadcom oder ARM ist essentiell für die Zukunft von Huawei. Nach außen gibt sich der Hardwarehersteller dabei gerne kämpferisch. Am liebsten würde man zwar weiter mit den bisherigen Partnern zusammenarbeiten, aber wenn das nicht möglich sei, sei man gerüstet – und zwar mit einem "Plan B".

Harmony OS

Dieser "Plan B" trägt mittlerweile einen Namen: Nach Monaten an recht vagen – und sich teilweise widersprechenden – Aussagen hat Huawei unlängst im Rahmen seiner Entwicklerkonferenz erste Details zu einem neuen Betriebssystem namens "Harmony OS" verraten. Und diese klingen auf den ersten Blick durchaus vielversprechend: Ein komplett neuer Microkernel soll eine deutlich bessere Performance als gängige Systeme bringen. Android-Kompatibilität soll es ebenfalls geben – und auch dabei soll "Harmony OS" flotter als ein "echtes" Android sein. Zudem sei das System so aufgebaut, dass man innerhalb von ein bis zwei Tagen bei einzelnen Geräten von Android auf Harmony OS wechseln könne. Dies haben man zumindest bei Smartphones zwar – vorerst – nicht vor, wie Huawei-Chef Richard Yu immer wieder betonte. Harmony OS soll zunächst nur für andere Geräteklassen genutzt werden. Die Aussage der Summe all dieser Statements ist aber trotzdem klar: Wenn ihr uns weiter ärgert, wechseln wir einfach nahtlos auf unser eigenes System.

Klingt alles sehr gut, hat nur ein kleines Problem: Bei näherer Betrachtung ist das alles nicht viel mehr als heiße Luft. Oder wenn man es etwas freundlicher formulieren will: Eine langfristige Zielsetzung, die mit der aktuellen Realität recht wenig zu tun hat, wie es auch Golem.de in einem aktuellen Artikel trefflich zusammenfasst.

Spurensuche

Doch von Anfang an: Kern von Harmony OS soll ein komplett neu entwickelter Betriebssystemkern sein. Dieser soll als Ersatz für den bei Android genutzten Linux Kernel zum Einsatz kommen. Technisch gesehen soll es sich dabei um einen Mikrokernel halten, der nur die wichtigsten Aufgaben wie Interprozesskommunikation und Lastenverteilung übernimmt. Konzeptionell ist das kein neues Modell, so basiert etwa Googles neues Betriebssystem Fuchsia OS ebenfalls auf einem eigenen Mikrokernel namens Zircon. Doch das grundlegende Konzept eines Mikrokernels ist noch viel älter. So lieferte sich schon Linux-Erfinder Linus Torvalds im Jahr 1992 eine hitzige Debatte mit Minix-Entwickler Andrew S. Tanenbaum, in der es um die Vor- und Nachteile eines Mikrokernels im Vergleich zu einem monolithischen Design – wie es bei Linux zum Einsatz kommt – ging.

Der Kernel von Huawei soll nun jedenfalls einige Vorteile gegenüber anderen Systemen bringen. So sei er von Grund auf auf niedrige Latenzen ausgelegt, also besonders flott reagieren. Auch sonst soll dank eines verteilten Ansatzes und anderen Neuerungen eine deutlich bessere Performance bieten. Die Mikrokernel-Architektur soll zudem eine höhere Sicherheit garantieren und die Update-Erstellung erleichtern.

Ankündigungen

Ob diese Behauptungen auch der Realität standhalten, lässt sich derzeit schwer sagen, viel mehr als Präsentationsslides gibt es zu dem unbenannten Kernel derzeit nicht. Laut Huawei arbeitet man schon seit zwei Jahren an dem neuen Kernel, in welchem Ausmaß lässt man offen. In den vergangenen Monaten habe man dann die Entwicklung aber erheblich beschleunigt. Durch diverse Vorträge des Unternehmens ist jedenfalls klar, dass Huawei in der Vergangenheit immer wieder Forschung in diesem Bereich betrieben hat. Dass man einen eigenen Mikrokernel auf die Beine stellen kann, erscheint also realistisch. Die Frage ist nur wann – und ob dann die jetzt versprochenen Vorteile auch wirklich überall halten. Immerhin hatte Huawei selbst vor einigen Wochen noch davon gesprochen, dass das System eigentlich für den Industrieeinsatz beziehungsweise das Internet der Dinge gedacht ist, und man gar nicht sicher sei, ob es für komplexere Einsatzgebiete – wie den Smartphone-Bereich – überhaupt taugt.

Realitätscheck

Klar ist jedenfalls: Von einem schnellen Wechsel auf den neuen Kernel kann derzeit keine Rede sein. Die erste Generation von Harmony-OS-Geräten setzt nämlich auf Linux auf. Betrachte man etwa jenen Honor TV näher, den das Unternehmen als Premiere-Plattform für sein neues System anpreist, stellt sich schnell die Frage, was hieran eigentlich neu ist. Handelt es sich dabei doch – soweit bekannt – um ein 0815-Linux mit einer selbstgestrickten Oberfläche von Huawei. Also genau das, was zahllose andere Hersteller bereits im Angebot haben. Selbst von der ebenfalls als Kernstück von Harmony OS angekündigten Android-Kompatibilität fehlt noch jede Spur.

Die Android-Connection

Apropos: Bei der Android-Kompatibilität handelt es sich um einen der wenigen Punkte, wo es etwas ausführlichere Informationen gibt. Hat doch Huawei bereits vor einigen Monaten mit ARK einen eigenen Ersatz für die Android Runtime (ART) vorgestellt. Die Idee dabei ist durchaus interessant: Der Java-Code soll schon direkt bei der Erstellung in statischen Code verwandelt werden, womit er nicht mehr am Gerät selbst umgewandelt werden muss. Daraus soll eine bessere Performance resultieren, da der Overhead durch die Runtime komplett entfällt. Damit soll dann Android endlich so flüssig laufen wie Apples iOS versichert Huawei. Klingt alles gut, muss sich aber in der Realität auch erst beweisen. Denn so schön theoretische Benchmark-Werte sind, sieht es in der realen Nutzung oft anders aus. Vor allem aber ist es ohnehin schon lange nicht mehr so, dass Google ART bei jedem Lauf den Java-Code umsetzen muss. Üblicherweise wird dieser nach ein paar Tagen Nutzung im Hintergrund gezielt an das jeweilige Smartphone angepasst, und dann läuft auch hier statischer Code. Zudem: Will Huawei optimierte Pakete für viele Plattformen ausliefern, könnte dies zu einem deutlich größeren Platzbedarf führen.

Von solchen Fragen abgesehen, handelt es sich bei ARK aber zweifellos um eine äußerst interessante Entwicklung. Wirklich ursächlich mit Harmony OS hat das aber nichts zu tun. Entwickelt wurde ARK nämlich von Huawei im Rahmen der eigenen Android-Entwicklung. Klar kann das dann auch für ein anderes Betriebssystem eingesetzt werden, doch damit ist es längst noch nicht getan. Ein Betriebssystem ist nun mal wesentlich mehr als ein Kernel und eine Lösung zur Ausführung von Anwendungen. Wenn Huawei etwa Android-Kompatibilität will, müsste man auch viele andere Android-Frameworks und -Bibliotheken entweder übernehmen oder nachbilden. Von all den Treibern, die die verschiedenen Hardwarepartner gezielt für das neue System entwickeln müssen, einmal ganz zu schweigen.

Status Quo

Linux-Kernel und Android-Kompatibilität samt all den dafür notwendigen Frameworks und -Komponenten: Was Huawei als komplett neues Betriebssystem präsentiert, ist in Wirklichkeit nicht viel mehr als eine glorifizierte Android-Abspaltung. Zumindest vorerst, denn im kommenden Jahr – mit Harmony OS 2.0 – will man dann auf den eigenen Mikrokernel wechseln und so Linux ersetzen. Wenn wir einmal davon absehen, dass sich erst zeigen muss, ob dieser Zeitplan realistisch ist – immerhin ist der Aufbau eines vollständigen Betriebssystems inklusive all der Komponenten zwischen Kernel und User Interface ein ziemlicher Aufwand – bleibt noch eine andere Frage: Wozu eigentlich? So faszinierend und begrüßenswert an sich die Entwicklung neuer Betriebssysteme ist, so wird Harmony OS doch nicht zuletzt als "Plan B" für den Fall präsentiert, dass man keine Android-Lizenzen von Google mehr erhält. Dafür ist die Entwicklung eines eigenen Mikrokernels aber komplett unerheblich, da der Linux-Kern ohnehin in keiner Weise vom US-Bann betroffen ist, also nicht das Problem darstellt.

Realismus

Die logische Reaktion auf die Bedrohung durch US-Strafmaßnahmen ist eine andere: Die Vorbereitung eines eigenen Android-Forks, der sich möglichst nah an der offiziellen lizenzierten Version von Google hält, um Kompatibilitätsprobleme zu vermeiden. Immerhin hätte das Unternehmen schon damit jede Menge Arbeit: Es gilt all die Infrastrukturdienste von Google mit eigenen Alternativen zu ersetzen, und vor allem dann die App-Entwickler dazu zu bringen, ihre Programme allesamt anzupassen. Denn sonst würden ein großer Teil sämtliche bestehenden Android-Apps unter Harmony OS schlicht nicht funktionieren. Und genau dahin scheint auch die reale Entwicklung von Huawei zu gehen, so ist etwa gerade erst bekannt geworden, dass das Unternehmen gemeinsam mit Firmen wie Yandex und Booking.com eine Alternative zur Einbettung von Google-Karten in Apps anbieten will. Dann muss man aber natürlich auch noch ein App-Ökosystem aufbauen, und die Konsumenten davon überzeugen, dass sie ohne Google-Apps – und zumindest anfänglich wohl auch viele andere Programme anderer Anbieter – auskommen können. Das ist in begrenztem Ausmaß möglich, wie etwa Amazon mit seinem Fire OS zeigt, wirklich erfolgreich war damit bisher aber noch niemand. Insofern stellt dies alleine schon eine große Herausforderung für Huawei dar, diese mit einem einem grundlegenden Wechsel an der Softwarebasis noch größer zu machen, erscheint nicht unbedingt zielführend.

Fazit

Um hier nicht falsch verstanden zu werden: Langfristig mag sich Harmony OS zu einem realen und auch durchaus interessanten, eigenständigen Betriebssystem entwickeln. Das was bisher darüber öffentlich gemacht wurde, klingt aber nach einer schnell zusammengeschusterten Kombination unterschiedlicher Projekte, die bei Huawei ohnehin schon in Entwicklung waren – und sehr großen weißen Flecken dazwischen. Eine Vision, die noch dazu mit dem, was derzeit als "Harmony OS" vertrieben wird, so gut wie nichts gemein hat. Insofern kann man sich des Gedankens nicht erwehren, dass die Vorstellung von "Harmony OS" zu diesem Zeitpunkt vor allem eines zum Ziel hat: Stärke signalisieren. Aus einer PR-Perspektive ist das auch durchaus legitim, allzu hoch sollte man die Erwartungen an das Betriebssystem – oder gar die Idee einer Android-Alternative – vorerst aber lieber nicht stecken. (Andreas Proschofsky, 19.8.2019)