Mein Beitrag fußt auf einem Telefonat mit einer besorgten Mutter meines Nachhilfeschülers einer sechsten Klasse eines Grazer Privatgymnasiums. Er sei laut ihrer Aussage Ende Juni in Mathematik so geprüft worden, dass eine positive Note im Jahreszeugnis von vornherein ausgeschlossen war. Dass stoffliche Lücken da waren, ist korrekt. Dass er so manches über die Ferien nachholen soll und muss, sehe ich ebenso. Dass er aber keine Klausel bekam, war doch überraschend.

Unreife als Bewertungskriterium?

Was mir zuvor schon als Gedanke kam und was sich dann im Austausch mit seiner Mutter bestätigte, war die spürbare Vorverurteilung durch gewisse Lehrkräfte. Laut Mathelehrer sei er nicht reif genug und habe im nächsten Schuljahr in der siebenten Klasse nichts verloren. Auch im Gespräch der Mutter mit dem Lateinlehrer seien hanebüchene Aussagen gefallen: Er schaue während des Unterrichts zu oft beim Fenster raus – er müsse 50 Minuten auf den Lehrer fokussiert sein. Und er habe auch beim Gottesdienst getratscht. Das Gespräch gipfelte in der Aussage, dass er im Gymnasium nichts zu suchen habe – er sei zu unreif.

Diese Aussagen, vor allem von zwei Hauptfachlehrern, drehen sich hier um den Reifegrad des Schülers und weniger um sein Wissen von Logarithmen und Deklinationen. Niemand hat behauptet, er sei ein Genie. Selbst ich als Nachhilfelehrer weiß, dass er Richtung Matura mehr tun muss. Aber wenn Lehrer einen Schüler derart abstempeln und klar loswerden wollen und dies auch noch so kommunizieren, dann hört sich meiner Meinung nach der Spaß auf. Erinnerungen an Torbergs "Der Schüler Gerber" werden wach.

Ein Klassenkasperl kann doch gar nicht gut in der Schule sein, oder?
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Schüler funktionieren nicht einfach so

Lehrer sollten ihre Schüler fair und transparent beurteilen. Es ist nicht ihr Job und ihre Expertise, selbstgefällige Urteile über den Reifegrad von Jugendlichen zu fällen und diese so zu kommunizieren. Sobald dies einmal geschehen ist, ist das elterliche Vertrauen in eine gerechte Beurteilung ihres Kindes völlig erschüttert. Quasi zerstört.

Natürlich weiß ich als ehemaliger Lehrer, dass nicht alle Schüler im eigenen Unterricht so "funktionieren", wie man es sich vielleicht wünscht oder erhofft. Es ist aber eine klare Aufgabe in diesem Job, damit umgehen zu können und niemanden derart abzustempeln. Hier zeigt sich übrigens der immer noch vorhandene historische Aspekt unseres Schulsystems, dass Schüler, die nicht für das Gymnasium geeignet erscheinen, in die Hauptschule abgeschoben werden können. Und in der Oberstufe sollen jene mit Schwierigkeiten oder Desinteresse "was lernen gehen, wenn’s ihnen nicht passt". Probleme verschieben ist auch viel einfacher, als sich damit zu befassen. Das passt auch besser zum Bild des Gymnasiallehrers als Exekutivbeamten, der glaubt, eine Maturatauglichkeit vorausschauend beurteilen zu können. Oder vielleicht doch nicht?

Unreife = nicht systemkonform

Was soll man als Eltern also machen? Zusehen, dass das Kind so geprüft wird, damit ein Aufsteigen in die nächste Klasse aktiv verhindert wird? Die Schule wechseln, damit das Kind von Null starten kann? Einfach den Mund halten, alles so lassen, wie es ist und trotzdem auf Besserung hoffen? Einen Bahöl machen, damit die Direktion merkt, dass solche Aussagen ihres Personals zum einen pädagogisch wertlos wie auch unsozial sind und zum anderen eher dem Ruf der Schule schaden als irgendwas zu verbessern?

Stichwort Verbessern: Selbst wenn hier "Defizite" welcher Art auch immer vorhanden sind, dann bedarf es eines konstruktiven Umgangs der Schule mit dem Schüler und seinen Eltern. Es ist schlichtweg plump, alles in den Begriff der subjektiv erlebten "(Un-)Reife" verpacken zu wollen, was an Verhaltensweisen nicht passt beziehungsweise nicht "systemkonform" erscheint. Im Mathematikunterricht sollten Wissen und Kompetenzen abgefragt und benotet werden und nicht das spätpubertäre Verhalten von Träumern, Klassenkasperln und anderen stereotypen Rollenträgern. Und selbst wenn diese Bilder zutreffen, müssen Lehrer solche Einschätzungen den Eltern anders kommunizieren als wie zuvor berichtet.

Das wirklich Positive an der ganzen Geschichte ist, dass mein Schüler sich trotz dieses Gegenwindes nicht entmutigen lässt. Wir arbeiten bereits den Mathestoff der sechsten Klasse auf und somit am Bestehen der Nachprüfung, obwohl diese vielleicht schon entschieden ist. Er ist motiviert und lernfreudig. Und er lässt sich sein positives Denken nicht zerstören, obwohl er für das System zu unreif sei. Seine Tasse ist also halbvoll. (Rainer Saurugg, 23.8.2019)

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