Bereits vor Monaten gingen Menschen auf die Straßen, um gegen jegliche Grenzen zwischen Irland und Nordirland zu protestieren.

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Die Auffanglösung für Nordirland sei "antidemokratisch" – das hat Boris Johnson an seinem ersten Amtstag als britischer Premier gesagt, und er hat diese Behauptung seither bei jeder Gelegenheit wiederholt. Eine neue Umfrage straft ihn Lügen: Das Wahlvolk in Nordirland hätte mehrheitlich nichts gegen eine engere Anbindung an die EU, wenn dafür Arbeitsplätze und Handel über die innerirische Grenze hinweg gesichert bleiben.

Die Backstop genannte Regelung war eine Folge der britischen Verhandlungsposition unter Johnsons Vorgängerin Theresa May. Deren harte Brexit-Linie sah den Austritt des gesamten Königreiches aus EU-Binnenmarkt und -Zollunion vor. Weil dadurch die offene Grenze zwischen Nordirland und der Republik Irland zu einer EU-Außengrenze würde, beharrte Dublin auf einer Rückversicherung: Nordirland müsse nötigenfalls in der Zollunion sowie im EU-Binnenmarkt für Güter verbleiben. Denn alle Beteiligten beteuerten stets Einigkeit: Die offene Grenze sei für den Friedensprozess und die Aussöhnung zwischen irisch-katholischen Nationalisten und britisch orientierten Protestanten in der früheren Bürgerkriegszone Nordirland von überwältigender Bedeutung.

Keine "Abtrennung"

May wurde aber zurückgepfiffen: Eine "Abtrennung" Nordirlands vom Rest des Königreiches sei undenkbar, fand die erzkonservative Protestantenpartei DUP unter ihrer Vorsitzenden Arlene Foster. Deren Stimme hat Gewicht, weil die zehn DUP-Abgeordneten die hauchdünne Mehrheit der Konservativen im Unterhaus sichern. Hingegen verweigern die sieben Mandatsträger der irisch-republikanischen Sinn-Féin-Partei ihre Mitwirkung im britischen Parlament.

Trotz der Skepsis vieler EU-Partner gaben die Brüsseler Brexit-Verhandler deshalb dem britischen Drängen nach: Statt ausschließlich Nordirland sollte der Backstop nun das gesamte Land betreffen. Vergeblich: Dreimal lehnte das Unterhaus Mays Austrittspaket ab, viele Brexiteers begründeten ihre Feindseligkeit mit dem Backstop.

"Näher an der EU bleiben"

Ob das alte, lediglich auf Nordirland bezogene Arrangement die Sache lösen könnte? Einer detaillierten Umfrage des Marktforschers Lucid Talk zufolge hätten die Nordiren jedenfalls nichts dagegen. 58,4 Prozent der Nordiren würden "näher an der EU bleiben als der Rest des Königreiches", wenn dafür Wirtschaft und Gesellschaft unangetastet bleiben.

Wieder einmal zeigt sich, dass die DUP nur eine lautstarke Minderheit vertritt. Vor drei Jahren votierten 56 Prozent der Nordiren gegen den Brexit, der Anteil ist laut Umfragen gestiegen. Bei der Europawahl musste die Protestantenparteien ein Mandat an die überkonfessionelle Allianzpartei abgeben, die sich ausdrücklich für den nordirischen Backstop starkmacht. Die Nordiren wollen nicht zu Geiseln der Brexit-Ultras werden.

Ablehnung in Irland

Ebenso auf Ablehnung wie bei den nordirischen Wählern stößt Johnson auch in Dublin mit seinen Wünschen nach einer kompletten Entfernung des Backstop. Die EU und ihr Binnenmarkt stellten "das Herzstück unserer politischen Freiheit und unseres wirtschaftlichen Wohlstandes" dar, beteuert der irische Finanzminister Paschal Donohoe und widerspricht damit konservativen Politikern wie David Trimble.

Der frühere nordirische Ministerpräsident hat die Iren allen Ernstes aufgefordert, sie sollten sich dem britischen EU-Austritt anschließen. Das komme ebenso wenig infrage wie die Streichung des Backstop aus dem britischen Austrittsvertrag, sagte hingegen Donohoe.

Damit spiegelt die Dubliner Regierung die Stimmung in Nordirland besser wider als Johnson, dessen überwiegend südenglische Parteimitglieder ihre Priorität dem Marktforscher You Gov eindeutig mitgeteilt haben: 63 Prozent würden das Auseinanderreißen des Königreiches in Kauf nehmen – Hauptsache, der EU-Austritt findet Ende Oktober statt. (Sebastian Borger aus London, 20.8.2019)