Den 14. März 2019 wird Christina Koch wohl nicht so schnell vergessen. An diesem Donnerstag stieg die 40-jährige US-Amerikanerin nach jahrelangen Vorbereitungen durch eine Luke in das Orbitalmodul des russischen Raumschiffs Sojus MS-12 auf der Startrampe des Weltraumbahnhofs Baikonur. Auf engstem Raum nahm Koch mit ihren Kollegen Alexej Owtschinin und Nick Hague Platz und lauschte dem Countdown der Flugleitzentrale – bis die drei um exakt 20.14 Uhr Ortszeit die Erde hinter sich ließen.

Sechs Stunden später erreichte das Raumschiff planmäßig die Internationale Raumstation (ISS), zur Erleichterung aller Beteiligten. Nur Monate zuvor war es, mit Owtschinin und Hague an Bord, zu einem Fehlstart gekommen: Die Trennung der ersten von der zweiten Raketenstufe 119 Sekunden nach dem Start versagte, die Rakete stürzte ab. Die Passagiere konnten mit ihrer Raumkapsel unverletzt notlanden.

Christina Koch beim ersten rein weiblich besetzten Außeneinsatz am 18. Oktober 2019.
Foto: Nasa

Koch, für die es die erste Mission im All ist, dürfte Geschichte schreiben: Sie soll bis Februar 2020 auf der ISS bleiben und insgesamt 335 Tage im Weltraum verbringen – so lange wie keine Frau je zuvor. Der Rekord ergibt sich in erster Linie aus technischen Gründen. Die Fertigstellung des neuen Raumschiffs, mit dem sie wieder zur Erde zurückkehren soll, verzögert sich. Kochs langer Aufenthalt im All ist aber auch von wissenschaftlicher Bedeutung: Forscher erhalten wertvolle physiologische Daten einer Raumfahrerin auf Langzeitmission. Das ist für die Weltraummedizin enorm wichtig – vor allem mit Blick auf die neuen Herausforderungen, die sich immer deutlicher abzeichnen.

Raumfahrt im Aufwind

Etliche Nationen hegen Pläne, die bemannte Raumfahrt nach Jahrzehnten der Vernachlässigung wieder stärker voranzutreiben. Am konkretesten sind die Vorhaben der US-Weltraumbehörde Nasa, die im kommenden Jahrzehnt wieder Menschen auf den Mond und in weiterer Folge auch auf den Mars bringen will. Auch Russland, China und die Europäische Weltraumorganisation Esa wollen zum Roten Planeten, dazu kommen noch private Player wie SpaceX oder Blue Origin. Der Nutzen dieser Vorhaben für die astronomische Forschung ist fraglich, der technische Fortschritt und monumentale Propagandaeffekt freilich nicht: Eine erfolgreiche Landung von Raumfahrern auf dem Mars wäre die größte technologische Meisterleistung der Menschheit – und würde sie zur multiplanetaren Spezies machen.

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Geht es nach den großen Playern der Raumfahrt, sollen Passagierflüge zum Mars bald mehr als Science-Fiction sein.
Foto: Picturedesk / Science Photo Library

Technologisch denkbar sind bemannte Reisen zu unserem Nachbarplaneten schon heute. Ihre Durchführbarkeit scheiterte bisher aber noch am Geld und an dem größten Unsicherheitsfaktor der bemannten Raumfahrt: dem Menschen. Die Liste der bekannten Gefahren, denen Raumfahrer auf langen Flügen wie zum Mars ausgesetzt wären, ist lang – und sie wächst beständig. Eine ganze Reihe an Risiken, die bei solchen Unternehmungen auftreten können, wurde erst in jüngster Vergangenheit entdeckt.

Drei Jahre im All

Die Zahl der Menschen, die bisher im All waren, ist mit 566 recht überschaubar. In den meisten Fällen wurden medizinische Daten gesammelt und ausgewertet, vor allem auf der ISS wurden auch etliche Forschungsprojekte durchgeführt, um mehr über die Auswirkungen der Raumfahrt auf den Körper herauszufinden. Während aber ein Flug zur Raumstation gerade einmal sechs Stunden dauert und die Apollo-Astronauten drei Tage zum Mond reisten, steht potenziellen Mars-Besuchern ein deutlich längerer Flug bevor. Wählt man den energetisch günstigsten Weg zum Roten Planeten, dauert allein der Hinflug an die neun Monate.

Die kürzestmögliche Mission mit Rückkehr würde fast drei Jahre in Anspruch nehmen, da man die richtige Mars-Erde-Konstellation abwarten müsste, ehe ein Retourflug möglich wäre. So lange war noch nie ein Mensch im All. Die körperlichen Folgen einer solchen Reise lassen sich nicht einfach mit denen von Aufenthalten auf der ISS vergleichen. Doch schon diese sind enorm, wie im Vorjahr eine bisher einzigartige Zwillingsstudie der Nasa eindrucksvoll unter Beweis stellte: Der Astronaut Scott Kelly verbrachte von März 2015 bis März 2016 insgesamt 340 Tage durchgängig im Weltraum, während sein eineiiger Zwillingsbruder Mark Kelly, ebenfalls Astronaut, auf der Erde blieb. Der umfangreiche Vergleich ihrer physiologischen Daten brachte eine lange Reihe von Veränderungen ans Licht, die nur bei Scott im Weltraum aufgetreten waren und zum Teil auch nach seiner Rückkehr zur Erde fortbestanden.

Die Zwillinge Mark (links) und Scott Kelly wurden in einer einzigartigen Studie untersucht: Scott verbrachte ein Jahr im All, Mark blieb zu Hause. Die Vergleichsdaten sind aufschlussreich.
Foto: Nasa

Neben längst bekannten Auswirkungen der Schwerelosigkeit auf Knochen und Muskeln entwickelte sich etwa die Genaktivität bei Scott Kelly signifikant anders, und es kam vermehrt zu Schäden im Erbgut der Zellen. Auch das Immunsystem, die mikrobielle Zusammensetzung im Darm und die Netzhaut der Augen änderten sich, während die geistige Leistungsfähigkeit in einigen Bereichen abnahm. In seinem 2018 erschienenen Buch "Endurance. Mein Jahr im Weltall" (C. Bertelsmann) schreibt Scott Kelly, er habe sich nach seiner Rückkehr wie ein alter Mann gefühlt, mit Schmerzen in den angeschwollenen Beinen, Übelkeit und brennender Haut.

Risiken und Nebenwirkungen

Was sind die größten Gefahren, denen Menschen auf einer Reise zum Mars ausgesetzt wären? Und welche Strategien und Gegenmaßnahmen hält die Weltraummedizin bereit, um die Gesundheit von Raumfahrern bei Reisen zum Mars bestmöglich zu schützen? Ein Überblick über die vier wichtigsten Punkte:

1. Unfälle und technische Gebrechen

Auch 50 Jahre nach Beginn der bemannten Raumfahrt stellen Raketenunfälle und technische Gebrechen aller Art ein erhebliches Risiko in der bemannten Raumfahrt dar. Von den 566 Menschen, die bisher im All waren, kamen 18 während ihrer Missionen ums Leben, insgesamt liegt das Risiko, im Weltraum zu sterben, demnach bei 3,2 Prozent. Weitere 13 Menschen verunglückten schon im Vorfeld tödlich – bei Unfällen während des Trainings oder bei Testflügen. Eine Unfallgefahr besteht klarerweise auf allen Etappen eines Raumflugs: Raketenexplosionen beim Start, Systemausfälle während der Reise, Kollisionen mit Mikrometeoren, defekte Raumanzüge, Komplikationen beim Eintritt in die Atmosphäre oder bei Landemanövern – all das ist bei vergangenen Missionen schon vorgekommen, manchmal mit glimpflichen, manchmal mit katastrophalen Folgen für die Crew.

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Rettungseinsatz nach der Notlandung von Alexej Owtschinin und Nick Hague im Oktober 2018. Selten verlaufen Zwischenfälle bei Raketenstarts so glimpflich.
Foto: AP/Russian Defense Ministry Press Service

Bisher ging es aber noch nie um einen weiteren Flug als bis zum Mond. Missionen zum Mars können weder vorzeitig zurückkehren, noch auf Nachschublieferungen von der Erde zählen, sollte es technische Zwischenfälle geben. Nicht einmal die direkte Kommunikation mit der Erde ist in Notfällen möglich – die Verbindung verzögert sich im Lauf des Flugs zum Roten Planeten um mehr als 20 Minuten.

Die Raumfahrer müssen also über ihre gesamte Mission hinweg autark bleiben. Das gilt auch für die Versorgung nach Unfällen. Medizinisches Training der Crew und eine umfangreiche Grundausstattung an Medikamenten und Ausrüstung für die Notversorgung sind klarerweise eine wesentliche Voraussetzung für bemannte Missionen. Insbesondere auf längeren Flügen wie zum Mars ist die Anwesenheit zumindest eines ausgebildeten Mediziners an Bord dringend ratsam.

2. Gefährliche Strahlung

Ganz oben auf der Liste der ungelösten Probleme, die das All für Raumfahrer bereithält, steht die hohe Strahlenbelastung. Während uns auf unserem Heimatplaneten dank Erdmagnetfeld und dichter Atmosphäre nur ein Bruchteil der hochenergetischen Teilchenstrahlung erreicht, die von der Sonne und anderen Sternen, aus Supernovae und der Umgebung von Schwarzen Löchern stammt, sind Raumfahrer den ionisierenden Teilchen viel stärker ausgesetzt.

Für Christina Koch und ihre Kollegen auf der ISS ist das Problem nicht so groß wie für potenzielle Mars-Reisende: Die Raumstation umrundet unseren Planeten in einer niedrigen Erdumlaufbahn (die durchschnittliche Höhe beträgt 400 Kilometer) und bekommt zwar mehr kosmische Strahlung ab als wir hier unten auf der Erde. In der Nasa-Zwillingsstudie wurden bei Scott Kelly unter anderem vermehrte DNA-Schäden festgestellt, die von der höheren Strahlung herrühren dürften. Doch auch die ISS ist noch vom Erdmagnetfeld geschützt.

Der US-Astronaut Robert Curbeam bei einem Außeneinsatz 2006. Die ISS wird noch vom Erdmagnetfeld vor kosmischer Strahlung geschützt
Foto: Nasa

Im Teilchenhagel

Auf einem Flug zum Mars verschwindet dieser Effekt hingegen, die hochenergetischen Teilchen lassen sich auch nicht so einfach durch die Außenhülle eines Raumschiffs abschirmen. "Das Problem bei der kosmischen Strahlung ist, dass sie durch einen konventionellen Schutz einfach durchgeht", sagt Jens Jordan. "Es handelt sich dabei um Schwerionen, und es kann sogar sein, dass beim Eindringen in ein Raumschiff sekundäre Strahlung entsteht, die unter Umständen noch schädlicher für den Menschen ist."

Jordan ist Direktor des Instituts für Luft- und Raumfahrtmedizin am renommierten Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR). Für ihn ist klar: "Die Strahlung ist eine der großen Herausforderungen, die man noch nicht im Griff hat." Trifft Strahlung auf den menschlichen Körper, kommt es zu Schäden in den Zellen und deren DNA. Zwar können gesunde Zellen viele Schädigungen wieder selbst reparieren, aber nur bis zu einem gewissen Grad. Hohe Dosen ionisierender Strahlung führen zum Zelltod, zu Mutationen und in weiterer Folge zu einem erhöhten Krebsrisiko. Ohne spezielle Vorkehrungen ist die Gefahr also groß, dass Raumfahrer entweder schon krank auf dem Roten Planeten ankommen oder dort nicht allzu lange gesund bleiben würden.

"Um Lösungsansätze für dieses Problem entwickeln zu können, müssen wir noch viel genauer verstehen, wie die Strahlenbelastung eigentlich aussieht. Erst wenn man weiß, wie viel Strahlung in welchem Teil des menschlichen Körpers ankommt, kann man das Risiko genauer einschätzen und Gegenmaßnahmen testen", sagt Jordan. Ein wichtiger Schritt in diese Richtung wird derzeit vom DLR aus koordiniert: Im Rahmen der Nasa-Mission Artemis 1 soll 2021 das von Nasa und Esa entwickelte Raumschiff Orion zum Mond fliegen, vorerst noch ohne Astronauten. In den Passagiersitzen sollen sich aber zwei "Phantome" befinden – Puppen, die mit Strahlungsdetektoren ausgestattet sind.

Anne McClain bei den Vorbereitungen für ihren ersten Start ins All im Dezember 2018. Im Juni kehrte sie wohlbehalten zur Erde zurück. Raumfahrern drohen viele Gefahren – je länger die Mission dauert, desto größer sind die gesundheitlichen Risiken.
Foto: APA/AFP/KIRILL KUDRYAVTSEV

Phantome an Bord

Die 95 Zentimeter großen Dummys "Helga" und "Zohar" besitzen in ihrem Inneren nachgebildete Organe und Knochen aus Kunststoff mit unterschiedlicher Dichte. Diese verfügen über insgesamt 5600 passive und 16 aktive Detektoren, die mit bisher unerreichter Genauigkeit messen sollen, wo wie viel Strahlung während des Flugs zum Mond ankommt. "Die Anzahl der Astronautinnen wird immer größer, daher haben wir uns für weibliche Phantome für unser Experiment entschieden", sagt Thomas Berger.

Der Österreicher leitet die Arbeitsgruppe Biophysik am DLR und zeichnet wissenschaftlich für das Matroshka Astrorad Radiation Experiment – kurz Mare – verantwortlich. Bis auf einen Unterschied sind die Puppen ident: Zohar wird eine neuartige Strahlenschutzweste tragen, Helga nicht. Ein Vergleich der Daten soll dann zeigen, in welchem Ausmaß die Weste eine Astronautin vor schädlicher Strahlenbelastung schützen würde, zumindest bei Mondflügen.

Ganze Raumschiffe wirksam gegen die kosmische Strahlung abzuschirmen ist derzeit schwer möglich – ihr Gewicht wäre viel zu hoch, um sie in den Weltraum zu befördern. Auch die Idee, einen Schutzschild mithilfe eines künstlichen Magnetfelds aufzubauen, lässt sich derzeit noch nicht zufriedenstellend realisieren.

Welche anderen Lösungsansätze gibt es? Nach Ansicht des Mediziners Jordan könnten medikamentöse Therapien eher nicht dabei helfen, Strahlenschäden zu verhindern, wohl aber dabei, die Reparatur geschädigter Zellen zu verbessern. Doch auch davon sei man momentan noch weit entfernt: "Im Moment gibt es leider keine Substanz, von der ich denke: Das ist die goldene Kugel."

Start eines Sojus-Raumschiffs mit Raumfahrern an Bord vom Weltraumbahnhof Baikonur in Kasachstan.
Foto: APA/AFP/KIRILL KUDRYAVTSEV

Hirnschäden durch Strahlung

Ein erhöhtes Krebsrisiko ist aber nicht die einzige Gefahr, die von den erhöhten Strahlendosen im Zuge einer Marsmission ausgeht. Experimente US-amerikanischer und russischer Wissenschafter lieferten in den vergangenen Jahren mehrfach Hinweise auf folgenreiche Hirnschäden durch ionisierende Strahlung. So berichteten Forscher der University of California, Irvine, 2016 im Fachblatt "Scientific Reports", dass schon eine moderate Strahlendosis bei Mäusen sichtbare Veränderungen im Gehirn verursachen kann, die mit lange anhaltenden Gedächtnisstörungen und Verhaltensänderungen einhergehen. Noch ein halbes Jahr nach der Bestrahlung zeigten die Nagetiere Anzeichen von Verwirrung und Demenz.

Inzwischen gibt es zumindest für dieses Problem eine mögliche Lösung am Horizont: Kürzlich berichtete ein Forscherteam der University of California San Francisco ebenfalls in "Scientific Reports" von einem vielversprechenden Wirkstoff, der diesem desaströsen Effekt auf das Gehirn entgegenwirken könnte. Bei Mäusen, die zunächst bestrahlt und anschließend zwei Wochen lang mit dem Mittel PLX5622 behandelt worden waren, zeigten sich demnach keine kognitiven Einschränkungen.

3. Folgenreiche Mikrogravitation

Die wohl vielfältigsten physiologischen Folgen eines Aufenthalts im All werden durch die fehlende Schwerkraft verursacht. Befindet sich ein Mensch in totaler oder annähernder Schwerelosigkeit (Mikrogravitation), beginnt der Körper unmittelbar damit, sich auf die neuen Gegebenheiten einzustellen. Binnen Minuten kommt es zu einer Verlagerung der Körperflüssigkeiten in die obere Körperhälfte. Die Halsvenen und das Gesicht schwellen an, der Körper versucht, den vermeintlichen Überschuss an Flüssigkeit durch verstärkte Ausscheidung auszugleichen. In der Folge schrumpft das Blutvolumen.

Alterung im Zeitraffer

Unangenehme Nebenwirkungen davon sind unter anderem sinkender Blutdruck, erhöhte Körpertemperatur, Kopfschmerzen, Herzrasen, Schweißausbrüche und Erschöpfungszustände. Doch schon nach geraumer Zeit passt sich der Körper an die neuen Bedingungen an, und Astronauten fühlen sich wieder besser. "Es ist sehr erstaunlich, dass der Mensch in so einer anderen Umwelt überhaupt überleben kann. Im gesamten Verlauf der Evolution waren wir ja immer der Gravitation ausgesetzt", sagt Jordan.

Wenn Raumfahrer allerdings nicht dauernd dahinter sind, negative Effekte der fehlenden Gravitation abzumildern, hat das schwerwiegende Konsequenzen. In vieler Hinsicht gleichen die Folgen einem beschleunigten Alterungsprozess: Es kommt zum Abbau von Muskelmasse und Knochen, Koordinationsprobleme und Sehstörungen treten auf, das Herz-Kreislauf-System bildet sich zurück, und das Immunsystem wird schwächer. "Das ist sozusagen das Gegenteil von Training, man wird dekonditioniert", erklärt Jordan.

"Die Folgen der Mikrogravitation sind das Gegenteil von Training", sagt Jens Jordan, Direktor des Instituts für Luft- und Raumfahrtmedizin am Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt.
Foto: DLR

Die Auswirkungen auf Muskeln und Knochen sind heute schon gut erforscht. Unser Bewegungsapparat reagiert rasch auf die Entlastung durch die Schwerelosigkeit – in erster Linie mit Abbauprozessen. Ungenutzte Muskeln atrophieren, die Knochen verlieren Kalzium und schwinden ebenfalls. Scott Kelly verlor während seines einjährigen Aufenthalts auf der ISS insgesamt sieben Prozent seiner Körpermasse. Ein erstaunliches Detail am Rande: Gleichzeitig "wuchs" er um 3,8 Zentimeter, da durch die fehlende Gravitation die Wirbelsäule gestreckt wird. Zurück auf der Erde, konnte er freilich nicht lange auf seinen Zwillingsbruder herabblicken, sondern schrumpfte rasch wieder auf seine Normalgröße zurück.

Die Dekonditionierung könnte nach einem langen Raumflug zu erheblichen Schwierigkeiten führen, da bei plötzlicher Wiederbelastung Verletzungen und Knochenbrüche drohen. Auf dem Mars herrscht zwar nur gut ein Drittel der Erdanziehungskraft, doch in voller Raumfahrermontur auszusteigen ist trotzdem keine Kleinigkeit. Die wichtigste Maßnahme, um den Effekten auf Muskulatur und Knochen entgegenzuwirken, ist tägliches rigoroses Kraft- und Ausdauertraining, sagt Jordan. "Wenn man das mit früher vergleicht, kommen Astronauten heute dank des Trainings in erstaunlich guter Form wieder aus dem All zurück."

Immunsystem im Argen

Eine beunruhigende Komplikation, die wie bei vielen Astronauten auch bei Scott Kelly im All auftrat, betrifft die Augen: Es kommt nach längerer Zeit in der Schwerelosigkeit häufig zu Sehstörungen, in manchen Fällen dauerhaft. Dementsprechend groß ist auch das Forschungsinteresse an diesem Phänomen, das für Mars-Reisende zu einem ernsten Problem werden könnte, sagt Jordan: "Man hat gesehen, dass bei Astronauten Veränderungen am Augenhintergrund entstehen, die so ähnlich aussehen wie bei Patienten mit erhöhtem Hirndruck. Derzeit wird vermutet, dass das durch die Volumenverlagerung zustande kommt."

Sollte der Hirndruck auf einer langen Mission dauerhaft steigen, ist nicht nur das Augenlicht in Gefahr. Im schlimmsten Fall drohen auch Schäden im Gehirn. Eine mögliche Gegenmaßnahme wird auch am DLR getestet: Künstliche Schwerkraft durch Zentrifugation könnte einigen Problemen durch die Schwerelosigkeit vorbeugen, sagt Institutsleiter Jordan. Der Trainingsplan für Mars-Besucher wird nicht kürzer.

Karen Nyberg absolviert eine Augenspiegelung auf der Raumstation. Viele Astronauten erleiden Sehverlust im All – ein möglicher Zusammenhang mit Hirnschwellungen wird diskutiert.
Foto: Nasa

Dass Mikrogravitation, kosmische Strahlung und Stress bei Weltraummissionen der körpereigenen Abwehr schaden können, wird schon lange diskutiert. Erst kürzlich untersuchten Forscher um Richard Simpson von der University of Arizona, wie sich die Bedingungen im All auf spezifische Zellen des angeborenen Immunsystems auswirken. Diese zu den Lymphozyten zählenden sogenannten NK-Zellen sind in der Lage, Tumorzellen oder von Viren infizierte Zellen zu identifizieren und abzutöten – für Raumfahrer, die ohnehin ein erhöhtes Krebsrisiko haben, also besonders wichtig.

Trotz der sterilen Bedingungen in Raumfahrzeugen sei aber auch die Virenabwehr für Astronauten bedeutsam, sagt Simpson: "Man wird sich zwar kaum neue Erkältungsviren oder Grippeviren einfangen, das Problem sind aber die Erreger, die sich bereits im Körper befinden und immer dann aktiv werden, wenn man geschwächt ist."

Das ernüchternde Ergebnis der Studie an ISS-Raumfahrern, die mindestens sechs Monate im All verbrachten: Die Funktion der NK-Zellen ist deutlich eingeschränkt, und zwar besonders bei Astronauten, die zum ersten Mal im Weltraum sind. Bei der Zwillingsstudie mit Scott und Mark Kelly zeigte sich auch, dass sich im All die Aktivität bestimmter Gene änderte, die in Zusammenhang mit dem Immunsystem stehen. Immerhin wirkte aber eine Grippeimpfung genauso wie auf der Erde.

4. Belastete Psyche

Von den bisher ausgeführten Gefahren abgesehen gibt es noch einen Faktor, von dem das Gelingen einer langen Weltraumreise mindestens ebenso stark abhängt: die menschliche Psyche. Eine Reise zum Mars und retour dauert etwa drei Jahre – eine lange Zeit, die man größtenteils auf engstem Raum mit gleichförmiger Routine bei hoher Anspannung und mit stets denselben Menschen verbringen muss. Angstzustände, Stress, Depressionen, Einsamkeit, Langeweile und Konflikte im Team zählen zu den größten Herausforderungen für Mitglieder solcher Einsätze. Ein vorzeitiger Missionsabbruch ist ebenso unmöglich wie die direkte Kommunikation mit Freunden, Familie oder dem Kontrollzentrum auf der Erde, wie sie ISS-Astronauten halten können.

Die psychische Gesundheit der einzelnen Teilnehmer vor Beginn der Reise ist eine Grundvoraussetzung. Aus Simulationsstudien und von Polarforschungsmissionen lässt sich aber auch ableiten, wie wichtig die Zusammensetzung der Gruppe ist. "Man muss nicht nur Individuen auswählen, die bestimmte Aufgaben erfüllen können, sondern auch verstehen, wie Teams miteinander funktionieren – über längere Zeit und unter sehr anspruchsvollen Bedingungen", sagt Jordan. Aus psychologischen Untersuchungen ist bekannt, dass gewisse Charaktereigenschaften den Zusammenhalt einer Gruppe stärken können: allen voran Verantwortungsbewusstsein, Empathie, Geselligkeit und Flexibilität.

Clown an Bord

Auch die Mischung unterschiedlicher Persönlichkeitstypen ist wichtig: Eine Balance aus introvertierten und extrovertierten Menschen ist ebenso ratsam wie die Anwesenheit eines Spaßvogels, wie Anthropologen der University of Florida bei Forschungsgruppen zeigen konnten, die am Südpol überwinterten. Ein intelligenter Clown in der Gruppe kann Spannungen erheblich entgegenwirken und als Verbindung zwischen unterschiedlichen Lagern wirken.

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Spaßvögel könnten Spannungen entgegenwirken – wenn sie nicht allzu nervig sind.
Foto: AP/Mikhail Metzel

Bei aller Sorgfalt in der Auswahl: Wirklich vorhersehen lässt sich dauerhafte Kooperation nicht. Dass das nicht nur für die Zusammenarbeit innerhalb der Gruppe gilt, sondern auch für die mit der Missionsleitung auf der Erde, zeigte sich eindrucksvoll im Dezember 1973. Damals entschlossen sich die drei Crewmitglieder der US-Weltraumstation Skylab kurzerhand, die Funkverbindung zur Erde zu kappen und sich lieber beim Anblick der Erde zu entspannen, als die vorgeschriebenen Aufgaben zu erledigen.

In späteren Untersuchungen des Vorfalls wurde klar, dass sich unter den Raumfahrern Frust über das hohe Arbeitspensum aufgestaut hatte. Ihren Ärger besprachen sie jedoch nur untereinander, was sie als Team enger zusammenschweißte – und gleichzeitig stärker gegen die Missionsleitung aufbrachte. Der "Streik im All", der durch alle Medien ging, war eine wichtige Lektion für den psychologischen Umgang mit Raumfahrern – nicht nur für die Nasa.

Risikobereitschaft

Klar ist: Die Wissenschaft hat längst nicht alle gesundheitlichen Risiken im Griff, die bei einer Reise zum Mars drohen. Die Gefahr, dass Raumfahrer während des Flugs erkranken, Zell- und Gehirnschäden davontragen, Sehstörungen erleiden, dekonditionieren oder in psychische Krisen geraten, ist erheblich – von den Folgen eines Aufenthalts auf dem Roten Planeten selbst einmal ganz abgesehen.

Wäre es aus heutiger Sicht also völlig unverantwortlich, Menschen auf eine solche Mission zu schicken? "Ob und wann Menschen zum Mars fliegen, ist keine medizinische Entscheidung", sagt Jordan. "Wir können nur versuchen, mit der medizinischen Forschung Risiken einzuschätzen und alles dafür zu tun, um die Gefahren so gering wie möglich zu halten. Ob das dann akzeptiert wird oder nicht, ist eine andere Frage – Menschen sind nun mal dazu bereit, Risiken einzugehen."

Bekommt der Marsrover Curiosity bald menschlichen Besuch? Technisch wäre eine bemannte Marsmission schon bald machbar, medizinisch aber hochriskant.
Foto: NASA/JPL-Caltech/MSSS

Nutzen für Daheimgebliebene

Wann auch immer der Homo sapiens den Sprung zur multiplanetaren Spezies schafft, die Fortschritte der Weltraummedizin sind zweifellos auch von irdischer Bedeutung. Viele körperliche Veränderungen, die Astronauten im All widerfahren, treten in ähnlicher Form auch auf der Erde auf – sei es durch Alterungsprozesse, durch Krankheiten oder nach Unfällen. Die Suche nach effektiven Gegenmaßnahmen nützt also keineswegs nur Raumfahrern, und das beginnt schon bei der Entwicklung neuer Untersuchungsverfahren und Modelle zur Abschätzung gesundheitlicher Folgen.

ISS-Astronautin Christina Koch denkt indes nicht viel darüber nach, den Rekord für den längsten Aufenthalt einer Frau im All zu brechen. "Für mich zählt nicht die Anzahl der Tage, die ich hier oben bin, sondern was ich in der Zeit tue", sagte sie kürzlich in einem Interview. Sie hoffe aber, dass auch ihr Rekord bald gebrochen wird: "Denn das würde heißen, dass wir die Grenze im All weiter verschieben." (David Rennert, 5.11.2019)