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Der Eiserne Vorhang bei Hegyeshalom am 2. Mai 1989.

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Das Jahr 1989 gilt als ein Annus mirabilis, in dem Europa sich ohne Blutvergießen ins Bessere wendete. Freilich hatte auch dieses so hoffnungsreiche Jahr traurige Schattenseiten. Unlängst erst hat eine Studie des Forschungsverbundes SED-Staat an der Freien Universität Berlin ergeben, dass 1989 zumindest 18 DDR-Bürger ums Leben gekommen sind beim Versuch, den Arbeiter- und Bauernstaat zu verlassen.

Noch am 12. Oktober sprang eine 22-Jährige aus dem Zug, der auf der Fahrt von Zittau nach Görlitz über polnisches Gebiet führt, um in die westdeutsche Botschaft nach Warschau zu gelangen. Sie verunglückte tödlich. Am 9. November fiel die Berliner Mauer.

Sein letztes unmittelbares Opfer forderte der Eiserne Vorhang am 21. August 1989 in der Nähe des mittelburgenländischen Lutzmannsburg. Kurt-Werner Schulz, ein 36-jähriger Architekt aus Weimar, versuchte mit seiner Lebensgefährtin Gundula Schafitel und dem sechsjährigen Sohn Johannes über die längst grüne Grenze zu kommen. Ihr Versuch, dies in Sopron zu tun, wie zwei Tage zuvor mehr als 600 Landsleute beim Paneuropäischen Picknick, misslang.

Alarmiert durch Massenflucht

Also probierten sie es ein paar Kilometer südlich von Sopron. In Répcevis fanden sie einschlägige Hilfe. Allerdings waren die Grenzer – im Ungewissen gelassen von einem noch zaudernden Budapest – alarmiert durch die vorangegangene Massenflucht. Die Flüchtenden wurden entdeckt, zum Stehenbleiben aufgefordert. Eine Signalrakete stieg auf. Es fiel ein Warnschuss. Die Familie lief weiter. Überquerte beim Grenzstein mit der Nummer B.80.4. die Grenze. Kurt-Werner Schulz wurde mit einem Grenzsoldat handgemein.

Der 19-jährige Zoltán – mehr als diesen Allerweltsvornamen gab das ungarische Militär nicht bekannt – gab zu Protokoll: "Er versuchte, mir die Kalaschnikow zu entreißen, die nicht mehr gesichert war. Ein Schuss löste sich, der ihn direkt in den Mund traf." Frau und Kind liefen zurück.

Es war ein Unfall. Das stellte eine österreichisch-ungarische Untersuchungskommission fest. Gundula Schafitel und ihr Sohn durften schließlich am 24. August ausreisen. Am selben Tag wurden hundert DDR-Bürger, die sich in die Botschaft der BRD in Budapest geflüchtet hatten, offiziell nach Westdeutschland gebracht.

Freie Ausreise

Am 25. August trafen Ungarns Ministerpräsident Miklós Németh und sein Außenminister, Gyula Horn, die westdeutschen Kollegen Helmut Kohl und Hans-Dietrich Genscher. Németh eröffnete das historische Treffen mit den Worten: "Herr Bundeskanzler, Ungarn hat sich entschieden, den DDR-Bürgern die freie Ausreise zu erlauben." In der Nacht zum 11. September war es so weit. Tausende kamen über Nickelsdorf.

Der letzte Tote des Eisernen Vorhangs – die Nachricht kam direkt in eine Pressekonferenz, in der der BRD-Bundeskanzler Helmut Kohl sein DDR-Gegenüber Erich Honecker zu Gesprächen über die Flüchtlingskrise aufforderte – hat den Gang der Ereignisse nicht beeinflusst. Aber wohl beschleunigt.

Seit vergangenen Donnerstag erinnert eine schlichte Gedenktafel in der Nähe des Tatorts inmitten des sogenannten Lutschburger Weingebirges an den Tod von Kurt-Werner Schulz. (Wolfgang Weisgram, 21.8.2019)