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Ein Bild aus den Befreiungstagen: Frauen im KZ Ravensbrück.

Foto: Getty Images / Keystone France

Helga Amesberger, Brigitte Halbmayr, Elke Rajal, "‚Arbeitsscheu und moralisch verkommen‘. Verfolgung von Frauen als ‚Asoziale‘ im Nationalsozialismus". 376 S. Mandelbaum-Verlag, Wien/Berlin 2019.

Cover: Mandelbaum Verlag

Als die 19-jährige Anna F. im Mai 1941 nach mehreren Unterbringungen in Erziehungsheimen vom Spiegelgrund-Psychiater Erwin Jekelius untersucht wird, stellt er eine folgenschwere Diagnose: Er beschreibt die junge Frau als "grenzdebile, asoziale, arbeitsscheue, lesbische Psychopathin", der die Einsicht in ihr "asoziales Verhalten" fehle.

Sie wird in der Heil- und Pflegeanstalt Am Steinhof interniert und zwangssterilisiert. Nachdem man sie von dort als "geheilt" entlässt, wird sie im Zuge einer Razzia in einem Wiener Kaffeehaus aufgegriffen und zur Untersuchung auf Geschlechtskrankheiten in die Heilanstalt Klosterneuburg eingeliefert, von wo sie in die "Arbeitsanstalt Am Steinhof" überstellt wird. Sie unternimmt einen Fluchtversuch, wird aufgegriffen und bestraft.

Erst im Februar 1944 wird Anna F. entlassen und "an einen Dienstgeber überstellt". Anna F. gehört zu einer Gruppe von im Nationalsozialismus verfolgten Menschen, mit der sich die Wissenschaft bisher wenig beschäftigt hat – den als "asozial" stigmatisierten Frauen.

Makel der "Arbeitsscheue"

In einer vom Jubiläumsfonds der Oesterreichischen Nationalbank (OeNB) finanzierten Studie, aus der auch ein eben erschienenes Buch hervorging, haben sich die Politikwissenschafterinnen Brigitte Halbmayr, Helga Amesberger und Elke Rajal vom Institut für Konfliktforschung erstmals intensiv mit dieser NS-Opfergruppe beschäftigt.

"Im Gegensatz zur klar definierten Kategorie ‚Jude‘ hat sich die Beschreibung von ‚Asozialität‘ in der NS-Zeit laufend gewandelt und erweitert", meint Elke Rajal. Grundsätzlich sei mit dem Begriff vor allem ein "unmoralischer" Lebenswandel und/oder die Beurteilung als "arbeitsscheu" verbunden gewesen.

Der "gemeinschaftsfremde" Makel der "Arbeitsscheue" wurde etwa jungen Frauen zugeschrieben, die sich dem 1938 eingeführten "Pflichtjahr" für unter 25-Jährige widersetzten. "Wurde eine vermittelte Arbeit nicht angenommen oder flüchtete ein Mädchen aufgrund von Gewalterfahrungen oder sexueller Belästigung vom zugewiesenen Arbeitsplatz, galt es als ‚arbeitsscheu‘ und geriet in die Behördenmaschinerie", weiß die Forscherin aus der Analyse zahlreicher Akten.

Aufschlussreich waren etwa Unterlagen der Polizei, die häufig Razzien in Kaffeehäusern und Parks durchführte. "Dabei aufgegriffenen Frauen wurde meist Geheimprostitution unterstellt." Besonders groß war die Gefahr, als "asozial" gebrandmarkt zu werden, für bereits polizei- oder der Fürsorge bekannte Personen. "Die Behörden hatten hier einen sehr großen Ermessensspielraum", so Elke Rajal.

Datenbank zu KZ-Häftlingen

Ausgangspunkt des vorerst auf die damaligen Gaue Wien und Niederdonau konzentrierten Projekts war eine am Institut für Konfliktforschung erstellte Datenbank zu österreichischen Häftlingen im KZ Ravensbrück. Daraus geht hervor, dass sich unter den rund 2700 Österreichern und Österreicherinnen im Lauf der Jahre auch 176 als "Asoziale" verfolgte Frauen befanden.

Die Forscherinnen sind nicht nur deren Geschichten nachgegangen, sondern haben auch die Verfolgungsschicksale von Mädchen und Frauen rekonstruiert, die in Arbeitsanstalten und ähnlichen Einrichtungen für "Asoziale" interniert waren. So wurden etwa die noch verfügbaren Akten jener 420 Frauen analysiert, die in der "Arbeitsanstalt Am Steinhof" zwischen 1941 und Kriegsende festgehalten wurden. Um "ihre Arbeitsmoral zu stärken", mussten diese Frauen sieben Tage in der Woche täglich 13 Stunden schuften, wobei jeder Kontakt zur Außenwelt strengstens untersagt war.

"Wurde gegen eine der rigiden Regeln verstoßen, konnte das Aufsichtspersonal aus einer breiten Palette von Bestrafungsmöglichkeiten wählen", berichtet Elke Rajal. Diese reichten von Dunkelhaft bis zu Erbrechen und Durchfall auslösenden Apomorphin-Injektionen. "Außerdem konnte man die Frauen bei Widerstand in ein KZ überstellen lassen."

Neben Steinhof gab es in Wien und Niederdonau noch eine Reihe anderer Arbeitsanstalten, etwa in Klosterneuburg oder Znaim – "aber dazu sind leider keine Akten vorhanden, die auf die Zahl der dort internierten Frauen schließen lassen". Wurde neben "Asozialität" mittels fragwürdiger Intelligenztests auch noch "Schwachsinn" diagnostiziert, hat man die Frauen nach einem Antrag beim "Erbgesundheitsgericht" zwangssterilisiert. "In der ‚Arbeitsanstalt Am Steinhof‘ galt ein Drittel der Frauen als ‚schwachsinnig‘, und ein Drittel wurde auch sterilisiert", weiß die Forscherin.

Zwanzig Jahre Kerker

Strafrechtliche Konsequenzen gab es nach 1945 übrigens nur für wenige Täter im Feld der "Asozialen"-Verfolgung. Einer davon war der ärztliche Leiter der "Arbeitsanstalt Am Steinhof", Alfred Hackel. Er wurde 1946 zu 20 Jahren schweren Kerkers verurteilt. Als das Verfahren 1948 wiederaufgenommen wurde, gelang es Hackels Anwälten allerdings, die Schöffen von der Unglaubwürdigkeit vieler Zeuginnen zu überzeugen, sodass die Strafe letztlich auf sechs Jahre reduziert wurde.

Ähnlich skandalös ist der Umgang mit den Opfern. "Das Opferfürsorgegesetz bedachte nur aus politischen Gründen sowie aus Gründen der Abstammung, Religion oder Nationalität Verfolgte", berichtet Elke Rajal.

Nur wenige der als "asozial" verfolgten Frauen reichten daher einen Antrag ein. "Wir fanden nur 25 Opferfürsorgeakten von als ’asozial‘ verfolgten Frauen. In einigen Fällen wurden die Anträge von Angehörigen gestellt, weil das Opfer die KZ-Haft nicht überlebt hat." Der Großteil der Frauen, die wegen "Asozialität" in den KZs Ravensbrück und/oder Uckermark inhaftiert waren, bekam niemals eine Entschädigung zugesprochen.

Stigmatisierung

Da sich nach 1945 die Stigmatisierung ziemlich nahtlos fortgesetzt hat, wollten die meisten als "asozial" Verfolgten mit ihrer Leidensgeschichte verständlicherweise auch nicht gern an die Öffentlichkeit gehen.

Verschärft wurde ihre nahezu rechtlose Situation durch den Umstand, dass sehr viele dieser Frauen eine schlechte Schulbildung hatten, aus schwierigen Familienverhältnissen kamen und kaum über hilfreiche soziale Netzwerke verfügten. "Es gab keine Lobby für sie, und in den KZ-Verbänden waren sie lange nicht vertreten", so die Wissenschafterin.

Besonders nahe gegangen seien ihr Fürsorgeakten, aus denen hervorgeht, wie genau bereits junge Mädchen in Hinblick auf Moral und Sexualverhalten beobachtet und beurteilt wurden. "Oft hat man diese Kinder in immer schlimmere Heime überstellt, bis sie schließlich in der Arbeitsanstalt oder im KZ landeten. Das Urteil über sie war bereits früh gefällt."

Zusätzlich erschütternd seien die immer wieder abgelehnten Entschädigungsansuchen und die fortgesetzte Diskriminierung auch nach dem Ende der NS-Herrschaft. In einem ebenfalls von der OeNB geförderten Folgeprojekt wird die Forschung nun auf weitere Gaue ausgedehnt, außerdem sollen auch die Geschlechterunterschiede bei der Zuschreibung und Verfolgung von "Asozialität" genauer unter die Lupe genommen werden. "Es stand ja – und dies ist eine Konstante – gerade die Sexualität der Frauen ganz besonders im Fokus." (Doris Griesser, 25.8.2019)