Der europäische Integrationsprozess hat die irische Grenzregion stark geprägt. Die Folgen eines harten Brexits wären in Nordirland besonders verheerend, so die Politiksoziologin Katy Hayward.

Gerade in jenem Moment, in dem das Vereinigte Königreich von Großbritannien und Nordirland dringend eine Führungspersönlichkeit bräuchte, die den Brexit mit kaltem Pragmatismus in Angriff nimmt, wurde es mit einem Showman bedacht, der wenig Verständnis für Details hat und nur beschränktes Gespür für die Komplexität der Aufgabe besitzt.

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Boris Johnson – ein Showman als Premier.
Foto: REUTERS/Toby Melville

Die Mitglieder der konservativen Partei haben einen Dilettanten auf den Schild gehoben, wo eigentlich ein Profi sein sollte – vielleicht aus jenem merkwürdigen Wandlungsprozess heraus, der aus Angst Enttäuschung werden lässt.

Absolventen der Geisteswissenschaften wie Boris Johnson sind dafür bekannt, Sprache präzise und mit Durchschlagskraft einzusetzen. Aber während seiner gesamten Karriere hat Johnson Sprache verwendet, um seine Aussagen zu verschleiern, seine Fans zu erheitern und um seine Kritiker und Gegner auf unbekümmerte Weise abzufertigen. Das ist als Ansatz passend zum Brexit-Britannien, wo Fiktion und Fantasie immer wieder die unangenehmen Tatsachen verdrängen.

Keine Grenze, keinen Brexit, das Karfreitagsabkommen schützen – das fordern diese Demonstranten.
Foto: APA / AFP / Paul Faith

Fiktion und Fantasie

Solche Illusionen treffen an der irischen Grenze aber auf die raue Wirklichkeit. Darum ist diese Grenze zu einem möglichen Stolperdraht für Johnsons Amtszeit als Premier geworden.

Johnson selbst hat die Aufmerksamkeit der breiteren britischen Bevölkerung auf die "irische Grenzfrage" gezogen, indem er das Streichen des sogenannten Backstops zu einer Bedingung dafür gemacht hat, den Austrittsvertrag zu akzeptieren. Dies geschah jedoch, ohne den Zweck des Backstops zu erklären und auch ohne (bisher) einen ernsthaften Vorschlag für eine Alternative zu machen.

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In den Grenzgemeinden sind die Tories und ein EU-Austritt Großbritanniens nicht populär.
Foto: REUTERS/Clodagh Kilcoyne

Schwulst siegt über Information. Scharen an Briten würden Ihnen erklären, dass der Backstop "undemokratisch", "verabscheuungs- und verachtungswürdig" ist; wenige könnten eine einfache Erklärung liefern, worum es dabei geht. In der Tat warten wir noch darauf, vom Premierminister selbst einen detaillierten, fundierten Kommentar dazu zu hören.

Das ist deswegen eine ernste Angelegenheit, weil das, worauf sich Johnson als einen entscheidenden Punkt für den Brexit konzentriert hat, mit dem vielleicht komplexesten, heikelsten und entflammbarsten Thema britischer Geschichte und Politik zusammenhängt: der Zukunft Nordirlands.

Vom Konflikt zur Kooperation

Der Backstop im Austrittsvertrag ist in erster Linie eine Maßnahme zum Schutz des Friedens. Er zielt darauf ab, im Falle eines harten Brexits das abzusichern, was in der jüngeren Vergangenheit durch die Umwandlung der Grenze von einer Konfliktlinie in eine der Kooperation erreicht worden ist.

Tatsächlich könnte man die irische Grenzregion als jenes Gebiet des Vereinigten Königreichs betrachten, das am stärksten vom europäischen Integrationsprozess geprägt worden ist. Das Schließen von Zollstationen, die Vertiefung des gemeinsamen Markts, das Erleichtern von Dienstleistungen über die Grenze hinweg, die Schutzmaßnahmen für Grenzgänger – all das hatte in den Grenzstädten Newry, Enniskillen und Strabane sehr viel mehr ganzheitliche Folgen als irgendwo sonst im Vereinigten Königreich.

Europäische Leistung

Nichtsdestotrotz: Erst als das Karfreitagsabkommen von 1998 friedliche Zustände schuf, war es möglich, die Gelegenheiten zur Integration voll auszunützen. Entscheidend für den Erfolg war, dass dies großteils als ein entpolitisierter Prozess verstanden werden konnte.

Zusammenarbeit über die Grenze hinweg ist im Kontext der EU logisch und normal. Dass sie über eine Grenze hinweg stattfinden konnte, an der bis vor kurzem starke Sicherheitsvorkehrungen geherrscht hatten, macht diese Normalität ziemlich außergewöhnlich. In diesem Sinn ist der derzeit offene Zustand der irischen Grenze eine europäische Leistung gewesen oder, um genauer zu sein, eine Leistung des Vereinigten Königreichs und Irlands als EU-Mitgliedstaaten.

Fragiler Frieden

Die Menschen, die in der irischen Grenzregion leben und arbeiten, haben sehr unterschiedliche Ansichten über die EU und über den Brexit. Aber alle würden bezeugen, dass der jetzige Zustand unvergleichlich besser ist als früher. Und alle – sogar die jüngere Generation – sind sich der Fragilität jenes Friedens bewusst, dessen sie sich nun erfreuen. Eine steigende Zahl würde die Zukunft mit Begriffen wie "viel Wandel" und "wachsende Gefahr" beschreiben.

Indem er in seiner Balgerei mit Brüssel den Backstop aufs Korn genommen hat, ist Johnson das Risiko eingegangen, der größte destabilisierende Faktor in dieser instabilen Region zu werden.

Johnson beabsichtigt offenbar einen harten Brexit für den Fall, dass die EU beim Backstop nicht nachgibt. Dabei wären die Folgen in Nordirland besonders verheerend. Zumindest einer von zwanzig Jobs wäre in Gefahr. Lieferketten und Wirtschaftsbereiche würden beinahe über Nacht unrentabel werden. Es würde noch schwieriger, die politische Polarisierung zu überbrücken. Und die Notwendigkeit, die Folgen mittels direkter Regierungsführung aus Westminster zu bewältigen, könnte das Abkommen von 1998 ziemlich untauglich machen.

Großes Risiko

In all dem schwingt Risiko mit. Der Frieden in Nordirland gründete auf einer engen Partnerschaft des Vertrauens und Respekts zwischen der britischen und der irischen Regierung. Gefördert wurde er von einer Normalisierung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit, unterstützt durch stabiles Wachstum und Entwicklung der Wirtschaft. Er hatte eine Politik für Nordirland zur Voraussetzung, die im Parlament von Belfast gemacht wurde und nicht in London.

Wir stehen vor einer äußerst kritischen Lage für den Frieden und die Stabilität in Nordirland, vor einem richtigen Sturm. Und der Kapitän des Regierungsschiffs segelt mitten darauf zu. (Katy Hayward, 21.8.2019)