Mit dem 18-köpfigen Orjazztra Vienna sieht sich Christian Muthspiel quasi am Ziel seiner jazzorchestralen Träume.

Schimmer

Zu welcher Tages- und Nachtzeit jemand Ö1 aufdreht – er wird mit Ideen von Christian Muthspiel beschallt. Seit der Steirer die klassischen, dann wieder jazzigen Signations für den Sender komponiert hat, ist er ein Dauerbegleiter für Fans jenes Senders, der "gehört gehört". Der vielseitige Komponist, Posaunist, Pianist und Dirigent hat kurze Stücke ersonnen, die eine Weiterentwicklung vertragen würden. Von seinem neuen Projekt will Muthspiel die Ö1-Miniaturen allerdings freihalten.

Ein akustisches Déjà-vu muss, wer das neue Orjazztra Vienna in Saalfelden hört, also nicht fürchten. "Es ist vom ersten Ton an alles neu, ich wollte Neuland betreten." Die Musik des Orjazztra sei auch "komponiert und nicht arrangiert", beharrt Muthspiel auf den Unterschied. "Ich habe komplexe Partituren geschrieben, die dem Begriff Orchester so nahe sind wie dem Begriff Jazz. Ein Jazztune zu arrangieren, ist etwas Anderes, als eine 17-stimmige Partitur zu komponieren."

Nicht beleidigt

Carla Bley und das Vienna Art Orchestra, bei dem Muthspiel tätig war, sind Inspirationsquellen, die jedoch zu individuellen Stücken führen sollen. "Ich will jedoch nicht krampfhaft Einflüsse verleugnen. Würde jemand zu mir sagen, das Orjazztra klinge nach Bley, würde ich mich eher freuen als beleidigt sein." Schon die Besetzung mit doppelter Rhythmusgruppe, sechs Saxofonen mit vielen Wechselinstrumenten und einem eher kleinen Blechsatz sei aber sehr individuell "wie auch etwa der Schwerpunkt 'polyrhythmisches Komponieren'."

Größe löst Freude aus

Vor allem der Begriff "Orchesterkultur" ist Muthspiel wichtig: "Ich meine damit aus der Klassik stammende Tugenden der Interpretation im Sinne von Klangfarben, Dynamik, Phrasierung." Es wundert nicht. Durch das Schreiben für große und kleinere Besetzungen und das Dirigieren opulenter Symphonik sei ihm "der große Apparat recht vertraut. Das heißt: Es löst bei mir Freude aus, ein siebzehnzeiliges Partiturblatt zu beschreiben, da viele grundsätzliche Fragen der Mehr- und Vielstimmigkeit in jeder Musik dieselben sind."

Muthspiel meint dabei die Aspekte Stimmführung, Kontrapunkt, Instrumentation und Balance, und das klingt nach profunder Handschrift. Allerdings "riecht" sein Projekt nach einer Verzahnung von Klassik und Jazz, die einst im Third Stream betrieben wurde und ein heikles Unterfangen blieb. "Das Orjazztra ist eindeutig ein Jazzprojekt, kein Third Stream oder Crossover. Es ist ein Jazzorchester mit hohem kompositorischem Anteil und dem Anspruch an einen gewissen Grad von Komplexität."

Keine Kummernummer

Eine noch so leichtfüßig klingende Riesencombo ist natürlich auch von der psychologischen Dynamik her speziell, also heikel. Wenn es da Konflikte gibt, ist der Leiter auch Therapeut, Mediator, Kummernummer. "Als Dirigent hat man immer mehrere Funktionen, aber künstlerische Konflikte können belebend sein", sagt Muthspiel, der keinen Zwist nahen sieht. Er habe vor allem "Lust, mit jungen Musikerinnen und Musikern zu arbeiten, das Durchschnittsalter ist um die 30!".

Durch deren "andere Spielweise und Sicht auf den Jazz – auch aufgrund völlig unterschiedlicher musikalischer Sozialisation als in meiner Generation – spüre ich eine Frische und Qualität, die mich inspiriert." Er habe sich viele Konzerte junger Bands angehört, "um mir ein Bild zu verschaffen, bevor ich – was die musikalische und menschliche Chemie anbelangt – die Band sehr bewusst zusammengestellt habe.

Frauen in den Jazz

Und dass eine Schlagzeugerin, zwei Bassistinnen und drei Saxofonistinnen dabei sind, "repräsentiert den längst überfälligen Einzug der Frauen in die Jazzszene, welche diesbezüglich der Klassikwelt leider um Jahrzehnte hinterherhinkt." Selbst mitjazzen wird er nicht. "Wäre eindeutig zu viel. Außerdem sind 'meine' zwei Posaunisten so großartig, dass ich eigentlich eher froh bin, nicht mithalten zu müssen." (Ljubiša Tošić, 21.8,2019)