Die Staatsanwaltschaft forderte zehn Jahre, die Verteidigung einen Freispruch.

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An den 35-jährigen Daniel H. erinnert auf dem Gehsteig an der Brückenstraße in Chemnitz eine schlichte graue Tafel. Darauf ist ein Friedenszeichen zu sehen, dazu der Name Daniel H. und das Todesdatum: 26. 8. 2018.

Nun, ein Jahr später, fiel das Urteil. Alaa S., ein 24-jähriger syrischer Asylwerber, wurde am Donnerstag zu neun Jahren und sechs Monaten Gefängnis verurteilt – wegen Totschlags und gefährlicher Körperverletzung. Der Richterspruch erging nicht in Chemnitz, sondern in der sächsischen Landeshauptstadt Dresden. Dort hatte der Prozess aus Sicherheitsgründen stattgefunden, denn Chemnitz war nach der Tat lange aufgewühlt gewesen und nicht aus den Schlagzeilen gekommen.

In der Nacht zum 26. August des Vorjahres war der Deutsch-Kubaner Daniel H. mit Freunden auf dem Chemnitzer Stadtfest unterwegs gewesen. Gegen drei Uhr morgens geriet die Gruppe mit anderen in Streit. H. wird durch Messerstiche schwer verletzt, zwei andere Männer werden verletzt. H. stirbt im Krankenhaus.

Rechte Kundgebungen

Obwohl noch nicht klar ist, was tatsächlich passiert ist, rufen am Tag darauf – einem Montag – rechte Gruppen im Netz zu Demonstrationen auf. Am späten Nachmittag versammeln sich ohne Anmeldung hunderte Menschen am berühmten Karl-Marx-Monument.

Sie ziehen durch die Innenstadt, viele werfen mit Flaschen und Steinen. Die Polizei ist mit zu wenigen Kräften vor Ort. Noch mehr Demonstranten, darunter gewaltbereite Neonazis, folgen am Abend einem Aufruf der rechtspopulistischen Initiative "Pro Chemnitz". Zuvor war Haftbefehl wegen gemeinschaftlichen Totschlags gegen Alaa S. und einen 22-jährigen Iraker ergangen. Der Iraker kam später wieder frei, ein weiterer Tatverdächtiger ist allerdings nach wie vor flüchtig.

Bei der Demo wird der Hitlergruß gezeigt, es kommt zu gewalttätigen Auseinandersetzungen, 20 Menschen werden verletzt. Tags darauf nimmt Kanzlerin Angela Merkel Stellung und sagt jenen Satz, der die Stadt und die Bundesregierung noch lange beschäftigen wird: "Wir haben Videoaufnahmen darüber, dass es Hetzjagden (auf Ausländer, Anm.), dass es Zusammenrottungen gab."

Das Problem Maaßen

Chemnitz kommt lange nicht zur Ruhe. Viele Bewohner wehren sich dagegen, als "braune Bürger" abgestempelt zu werden. Es gibt Demonstrationen von Rechten und Gegendemos. Und auch die Regierung bekommt ein Problem: Hans-Georg Maaßen, Chef des Bundesamtes für Verfassungsschutz, widerspricht Merkel.

Er sagt, auf dem Video seien keine "Hetzjagden" zu sehen. Das Vertrauen ist erschüttert, da Maaßen auch Kontakte zur AfD nachgesagt werden. Man beschließt, ihn abzuberufen und zum Staatssekretär im Bundesinnenministerium zu machen. Als herauskommt, dass sein Gehalt dadurch steigt, schlittert die große Koalition in eine Krise. Schließlich wird Maaßen pensioniert.

Viele hätten sich gewünscht, dass das Gericht sein Urteil – wie angekündigt – erst am 29. Oktober verkündet, also nach der Landtagswahl in Sachsen am 1. September. Doch das Gericht entschied schon am Donnerstag.

Rechtsmittel eingelegt

Die Staatsanwaltschaft hatte eine Freiheitsstrafe von zehn Jahren wegen Totschlags und gefährlicher Körperverletzung beantragt, die Verteidigung einen Freispruch, da sich der Prozess hauptsächlich auf Zeugenaussagen gestützt hatte. Nach dem Schuldspruch kündigte Letztere an, Rechtsmittel einzulegen. Das Urteil ist also nicht rechtskräftig.

Alaa S. hat vor Gericht lange geschwiegen, aber in einem ZDF-Interview abgestritten, ein Messer angefasst zu haben. Er sagte: "Ich habe Angst vor jedem hier, ich habe Angst vor den Mitgefangenen, ich habe Angst vor den Beamten. Ich habe sogar Angst vor dem Gericht." "Pro Chemnitz" ruft für Sonntag wieder zu einer Demonstration auf. (Birgit Baumann aus Berlin, 22.8.2019)