"Wir leben in aufgeregten Zeiten. Wenn man sich die Zahlen anschaut, dann funktioniert das Zusammenleben eigentlich ganz gut. Es passiert selten etwas."

Foto: Christian Fischer

18.00 Uhr
Als die ersten verbissenen Rennradler in voller Montur und mit hochrotem Kopf die Abfahrt von der Augartenbrücke heruntergeschossen kommen und den Kanal flussaufwärts dahinrasen, hinein ins Getümmel und irgendwie mittendurch, die Ellbogen ausgefahren und ihre Kraft nur von der Kunstfaserkleidung gebändigt, habe ich endlich eine Ahnung davon, wie schnell Räder unterwegs sein können. Die Wiener Stadtpsychologin Cornelia Ehmayer beschreibt so eine Haltung mit: "Jetzt bin ich da. Ich will da durch!"

18.06 Uhr
Die extrem dynamische Art der Rennradler ist hier natürlich nicht allen recht. Sie provoziert im Gegenteil Abwehrhaltungen und den Versuch, sich gegen die Raser zu behaupten. So trägt die verträumte "Freihändigfahrererin" (die nicht selten aus Berlin kommt oder doch mehrere Jahre dort gelebt hat) lieber Dutt statt Helm und hat irgendwann "Tradition" und "Werte" für sich entdeckt, was sie u.a. mit ihrem Rad ausdrückt. Auf dem fährt sie demonstrativ entspannt und in Schlangenlinien über die ganze Breite des Weges und zwingt dadurch einen 60-jährigen Rennradler mit mutmaßlich mehrjähriger Erfahrung im Solarium zur Notbremsung: "Aaargh! Du Trampel!" Der Verträumten ist wurscht, was der Solarbär von ihr hält.

18.08 Uhr
Die Duttträgerin ist in ihrer trotzigen Haltung seelenverwandt dem tief in sein Phone starrenden Schlurf, der den weißen Kastenwagen hinter sich, der gerade irgendwohin geliefert hat, zwar wahrnimmt und mittlerweile wahrscheinlich sogar spürt, weil er ihm schon fast in die Füße fährt, der aber trotzdem nicht ausweicht, weil er sich vermutlich denkt: "Ich bin auch ein ,Kleines Ich bin ich‘. Und ich will dich jetzt nicht vorbeilassen, nur weil du größer bist als ich." Das ist hier ein bisschen wie früher an der Wurstbudel: "Darf’s ein bisserl mehr von mir sein?"

18.09 Uhr
Ein ganz in Schwarz gekleideter Raser mit Boxen hinten drauf und lauter Musik darin reißt den Wandler aus seinem Schlaf. Diese Stadtindianer auf ihren Rädern mit Militaryhose und Satteltaschen links und rechts sind ganz eigene Typen, für die ist das hier kein gemütliches Nachhauseradel, da geht es um was. Aber um was? Fehlt jetzt nur das Messer zwischen den Zähnen, denn wenn ein Krieg ausbricht, dann muss man auch hier vorbereitet sein.

18.13 Uhr
Zwei Girls aus der "Im Winter bin ich in Indien"-Szene scheinen schon "gut drauf", vielleicht sogar angedüdelt, als während des gemütlichen Nebeneinanderherfahrens über die ganze Breite des Weges mehrfach eine Dose Gösser von einer zur anderen wechselt, ein Schluck, ein Lachen, ein Schlingerkurs. Es ist Sommer, alle tun, was sie wollen, und sie schauen nicht auf die anderen. Die Wiener Stadtpsychologin Ehmayer sagt: "Es gibt eben schwierige Menschen in der Stadt ebenso, wie es schwierige Situationen gibt." Sie sagt: "Im Verkehr geht es in Österreich immer gegeneinander. Da setzt die Kommunikation immer erst ein, wenn etwas passiert ist oder fast passiert. Und dann werden die Fehler immer beim anderen gesucht."

18.16 Uhr
Die mit ihrer schwarze Vice-Tasche auf ihrem alten Puch-Rennrad steigt plötzlich ab, um sich auf einem Selfie zu verewigen, und es ist ihr völlig wurscht, dass wegen ihr wieder alle ausweichen müssen. Das rote KTM-Rad, das grüne Puch-Rad, der orange Foodauslieferer. Das Wort Fairness leitet sich aus dem Englischen ab und meint: "Anständiges Verhalten. Gerechte, ehrliche Haltung anderen Gegenüber."

18.17 Uhr
Die erste Joggerin wackelt an mir vorbei, sie hat immerhin das Prinzip verstanden – einen Fuß vor den anderen. Auf den zehn Metern, die sie an meiner Nase vorbeikeucht, schaut sie auch dreimal vorschriftsmäßig auf die Uhr, aber sicher nicht auf die Stoppuhr. Und nein, sie trägt bei der Hitze keine Handschuhe, sondern Gewichte an den Händen, die wie Handschuhe aussehen. Sie joggt mit einer bleiernen Eleganz, die schon beinahe an Gehen erinnert, und hält damit ihrerseits wieder den fließenden Verkehr auf, während sie unglücklich dreinschaut (wie alle Jogger). Ich habe jedenfalls noch nie einen glücklich dreinschauenden Jogger gesehen. Ein Car-Bike-Fahrer um die 90 muss akzeptieren, dass sogar ein Jogger ihn überholt, er versucht es dann noch mal in die andere Richtung, aber da geht’s auch nicht schneller. Wenn er zum Muscle Beach hinaufwill, werden sie ihn dort nicht nehmen.

18.30 Uhr
Ein erster nicht angehängter Hund taucht auf und stellt ein weiteres unkalkulierbares Hindernis dar. Es ist ein Windhund, schmal wie sein Herrl, das in cremefarbenem Kurzhosenschick und blonder Langmähne das Glück außerhalb seines Zimmers sucht. Es steckt vielleicht in seinem fetten Joint, dessen strenger Geruch sich über die halbe Fairnesszone verteilt. Wenn andere sich hier die Lunge aus dem Leib fahren, ist es nur fair, wenn er sich sein Glück in die Lungen ziehen darf. Er müsste nur seinen Hund kontrollieren, der – auch eingeraucht? – seelenruhig ein paar Mal den Weg quert, während sich ein Dicker, der eine Radlerhose vom RC Mödling trägt und die Ehre der Dicken in Radlerhosen rettet, wegen ihm fast überschlägt. Wenn er aus seiner Hose rausgewachsen ist, dann ist er richtig rausgewachsen. Er flucht. Die Stadtpsychologin Ehmayer nennt den öffentlichen Raum eine "Kampfzone."

18.32 Uhr
Eine der wenigen Spaziergeherinnen, die mit kalkweißen Füßen in ihren großen Sandalen gemütlich an mir vorbeilatscht und die vor fünf Minuten gewiss noch die Socken anhatte, weil die Ränder sich gut sichtbar in ihre fleischigen, weißen Waden gedrückt haben, hätte dem Dicken wieder in die Pedale helfen können. Sie bringt einen seltenen Moment von Ruhe ins hektische Treiben, auf ihrer umgehängten Tasche steht:

Einfach.

Zufrieden.

Sein.

Pascal schrieb: "Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen." Recht hat er.

18.54 Uhr
Aber die resche Pensionistin, die auf ihrem E-Bike den Po tiefer gelegt hat, damit sie ihr Gesicht noch besser über das am Lenker angebrachte Phone beugen kann, um auf diese Art ihren Liebsten zu Hause via Facetimen das erschöpfte, erhitzte, errötete, verschwitzte Gesicht zu zeigen, hält nichts von Pascal. Nur Radfahren genügt auch den Pensionistinnen nicht mehr.

Fair" kommt aus dem Englischen und meint "den Regeln des Zusammenlebens entsprechend" oder "Eine Haltung der Anständigkeit".
Foto: Christian Fischer

19.03 Uhr
Eine E-Scooter-Fahrerin mit weißen Apple-Dingern im Ohr lässt uns wissen: "Er ist so ein Oarsch!" Weil "er" nämlich am Donnerstag so betrunken war, dass er am Freitag und Samstag auch noch ... Gott sei Dank kann ich nicht mehr hören, was er getan hat, weil sie genau in diesem Moment in eine Wand aus Mücken hinein fährt, die auch ihren Fair Share am öffentlichen Raum beanspruchen und sich ausgerechnet über der blauen Markierung "Fairnesszone" auftürmen. Ich merke es an den Verrenkungen derer, die durch die Wand hindurch müssen; an den Taschen, die sie schwingen, um die Viecher zu vertreiben, und an denen, die abbremsen, um sich eine Mücke aus dem Auge zu holen (und die dabei ausnahmsweise kein Selfie machen). Was wiederum die Nachkommenden zur Verzweiflung treibt: "Schleichts eich!"

19.06 Uhr
Ein junges Liebespärchen, das einfach verliebt ist, ohne zu telefonieren oder zu instagramieren – es ist, als sähe man ein Mammut!

19.07 Uhr
Urstylisch die eine mit weißem Rad samt orangen Felgen, weißer Jeans und orangem Top, natürlich telefonierend. Für sie wurde der Strache-Spruch erfunden: "Pfoah, die ist schoarf!"

19.09 Uhr
Ein seltener Gentleman in Jeans und weißem Hemd auf seinem Rad gibt Handzeichen, als er den Weg quert zum Fahrradständer. "Fair" kommt aus dem Englischen und meint "den Regeln des Zusammenlebens entsprechend" oder "Eine Haltung der Anständigkeit".

19.10 Uhr
Zwei Hot-Pants-Trägerinnen aus der Provinz stoppen unvermittelt und wissen nicht: "Weida? Oda net weida?" Helfen kann wie heute immer ein Blick ins Phone, der ihnen sagt: "Weida!"

19.11 Uhr
Entwarnung an alle Sellners und Straches: Die erste Kopftuchträgerin taucht erst nach einer Stunde und elf Minuten auf, und sie streut keine Reißnägel und spannt kein Seil, an dem sich alle heimischen Pedaltreter überschlagen – und sie endlich die Bevölkerung austauschen kann. Sie schaut sich vielmehr den Tent-Skulpturengarten der Künstlerin Kathrin Oder an. Empfehlung!

19.14 Uhr
Endlich schwitzt einer so richtig, dass ihm die Sauce runterläuft. Er trägt wie 50 Prozent der Jogger Orange. Schrecklich, wirklich schrecklich.

19.20 Uhr
Tätowierungen sehe ich an allen möglichen Schenkeln in allen möglichen Farben und Größen. Die Alten könnten den Jungen noch erzählen, dass das im Alter scheiße aussehen kann. Aber dafür sind sowohl die einen als auch die anderen zu schnell unterwegs, und voneinander wissen wollen sie hier alle nichts.

19.21 Uhr
Auf der Stiege hinauf zum Kai wird endlich geschmust, nicht heftig, aber immerhin. Ein Pfeifenraucher mit Panamahut quält sich an ihnen vorbei und will dem Rennradler nicht ausweichen, der seine "Rennmaschine" in seinen Rennradlerschuhen herunterträgt – tack, tack, tack.

19.25 Uhr
Die Schwangere fährt auf ihrem Rad neben ihrem Adonis, der den Oberkörper frei hat. Nächstes Jahr wird das Kleine, das dann auf der Welt sein wird, mit dem Radl mitfahren oder joggen, je nachdem, ob es nach dem Vater oder der Mutter gerät.

19.36 Uhr
Lustig, dass eine Gruppe Touristen sich in Deutsch probiert und ausgerechnet das Wort "Geschwindigkeit" auszusprechen versucht.

19.40 Uhr
Eine hat noch die Folien vom Haarefärben im Gesteck, als sie vorbeifährt. Gefolgt vom stadtbekannten Soziologen und Radfahrer Dr. Roland Girtler mit rotem Halstuch, der ein Routinier des Radelns ist. Er war weiß Gott schon wo mit seinem Drahtesel – und nicht zum Zwecke der Selbstdarstellung. Na gut, wenn man nicht aufpasst, kriegt man Postkarten von ihm, wo draufsteht, wo er heuer schon überall war. "Hallo Roland!" Zu spät.

19.42 Uhr
Endlich einer, der seine Dame auf dem Sozius mithat. Wo sind eigentlich die Gentlemen geblieben?

19.45 Uhr
Erste High Heels um 19.45 Uhr, schwarz und schwache sechs Zentimeter hoch mit wirklich beeindruckend roten Fersen von der Hornhaut. Ein Radler rast wenige Zentimeter an ihr vorbei. Die Stadtsoziologin Ehmayer sagt: "Wir leben in aufgeregten Zeiten. Wenn man sich die Zahlen anschaut, dann funktioniert das Zusammenleben eigentlich ganz gut. Es passiert selten etwas." Oft geht es sich gerade noch aus.

19.53 Uhr
Zwei junge Teenagermädchen gehen verliebt und händchenhaltend den Kanal flussabwärts. Gehen sie so bis nach Ungarn weiter, dann werden sie dort Probleme kriegen mit den Orbanisten. Hier in Österreich sind sie sicher. Hier dürfen noch alle leben, wie sie wollen. Das ist nur fair. Time to go. (Manfred Rebhandl, 24.8.2019)