Anelosimus studiosus ist die Spinne mit den zwei Gesichtern.
Foto: Joseph T Lapp

Was tut man, wenn für eine Region eine Hurrikan-Warnung ausgegeben wird? Richtig: Man macht sich so schnell wie möglich dorthin auf, um in aller Eile Spinnen aufzuklauben. Dann sitzt man den Wirbelsturm an einem sicheren Ort aus und kehrt nach 48 Stunden zurück, um eine zweite Runde Spinnensammeln zu beginnen.

Apokalypsen auf globaler und lokaler Ebene

So jedenfalls halten es Forscher der kanadischen McMaster University, und sie haben dafür einen guten Grund: Das Team um Jonathan Pruitt interessiert sich nämlich dafür, wie sich Katastrophen mittel- bis langfristig auf die Evolution auswirken. Dass globale Katastrophen wie etwa ein Asteroideneinschlag zu Weichenstellungen für die Entwicklung der Tierwelt werden können, ist bekannt. Das Ende der großen Dinosaurier und der daran anschließende Aufstieg der Säugetiere sind das beste Beispiel dafür.

Aber auch in viel kleinerem Maßstab kann es zu Weichenstellungen kommen. Lokal und regional können sich Wirbelstürme wie Mini-Apokalypsen auswirken. Sie fällen Bäume, entlauben das Blätterdach und verstreuen Trümmer über den Waldboden, was den betroffenen Lebensraum schlagartig vollkommen umkrempelt. Und wie auf der globalen, so gibt es auch auf der lokalen Ebene Tiere, die mit dieser Veränderung besser zurechtkommen als andere und daher nach der Katastrophe einen Startvorteil haben.

Die Spinne mit den zwei Gesichtern

Die Spezies, anhand derer die Forscher evolutionäre Prozesse studieren wollen, ist einer näheren Betrachtung wert. Die mit der Schwarzen Witwe verwandte Kugelspinne Anelosimus studiosus kommt nämlich in zwei verschiedenen Phänotypen vor, die sich anhand ihres Verhaltens beträchtlich unterscheiden. Die eine Variante ist einzelgängerisch und aggressiv gegen Eindringlinge, auch aus der eigenen Art – wie man sich eben eine Spinne gemeinhin vorstellt.

Solche Tiere können zwar durchaus nahe beieinander leben, doch ist das kein Vergleich mit der anderen Variante: Die bildet Kolonien, in denen zahlreiche Spinnen nicht nur friedlich koexistieren, sondern sogar gemeinsam Brutpflege und Beutefang betreiben.

Eine Netzkonstruktion von Anelosimus studiosus.
Foto: Jonathan Pruitt

Frühere Studien haben gezeigt, dass die sowohl in tropischen als auch in gemäßigten Breiten lebenden Spinnen nicht ganz zufällig verteilt sind. Je weiter im Norden sie leben, desto häufiger kommt der soziale Phänotyp vor. Forscher zogen daraus den Schluss, dass die Tiere einen Vorteil aus der Koloniebildung ziehen, weil der Tisch dort für sie nicht so üppig gedeckt ist wie in den Tropen. Einzelgänger haben es unter diesen Umständen schwerer, sich durchzuschlagen.

Neue Verhältnisse

Das gilt aber offenbar nur so lange, bis ein Hurrikan die Verhältnisse buchstäblich durcheinanderwirbelt. Die Forscher sammelten an 240 Stellen im Hurrikan-Einzugsgebiet Spinnen auf, untersuchten die Raten an Nachwuchs und verglichen die Ergebnisse mit Lokalitäten, die nicht in Sturmgebieten lagen.

Es zeigte sich, dass sich die aggressive Variante der Spinne im Ressourcenkampf nach einer Katastrophe besser durchsetzen und dadurch letztlich auch mehr Nachwuchs produzieren kann. (Aggression wird dabei unter anderem danach bemessen, wie schnell sich Spinnen auf Beute oder auch gefährliche Eindringlinge stürzen – aber auch nach der Häufigkeit, in der Männchen kannibalisiert und Eier aufgefressen werden.) Für die an ein friedliches Zusammenleben gewöhnten Spinnen hingegen wurde es in Zeiten der Not schwerer.

Laut Pruitt konnte dieser Trend an allen untersuchten Orten festgestellt werden, es handle sich also tatsächlich um eine evolutionäre Antwort auf ein katastrophales Ereignis. In diesem Fall um eine, die eine frühere evolutionäre Entwicklung – die Herausbildung von Koexistenz und sogar Kooperation – wieder zunichtemacht. (jdo, 31.8.2019)