Die deutschen Sozialdemokraten sind nur noch ein Schatten ihrer selbst – doch aufgeben will niemand.

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Es schaut in der Gaststätte Feierabend so aus, als könnte man hier einen gemütlichen Abend verbringen. Der Garten ist ruhig und sehr grün, auf dem Griller brutzeln die Würste, und zu trinken gibt es auch genug. Doch im hinteren Zimmer haben sich ein gutes Dutzend Menschen zusammengefunden, in deren politischem Leben es zurzeit nicht besonders entspannt zugeht: der SPD-Ortsverein Mitte / Brandenburg an der Havel.

"Wenn ich auf unsere Bundespartei schaue, dann liegt der Grad meiner Unzufriedenheit auf einer Skala von eins bis zehn irgendwo bei acht", räumt Edward Ageev freimütig ein. Aber es nutzt ja nichts. Auch wenn in der Bundeszentrale in Berlin, also rund 80 Kilometer weiter östlich von Brandenburg, die Kandidatenkür für den SPD-Vorsitz mit mittlerweile 17 Bewerberinnen und Bewerbern langsam, aber sicher zum skurrilen Spektakel verkommt: In acht Tagen wird in Brandenburg und Sachsen gewählt, die Wahlkämpfer vor Ort können nicht einfach aufhören.

Weißer Elefant am Tisch

Und daher hat Ortsgruppenchef Ageev, ein Juso in Ausbildung zum Industriemechatroniker, zum allmonatlichen Treffen des Ortsverbandes gebeten. Da geht es um den Takt der Nachtbusse, gratis Frühstück in Schulen und das nächste Bürgerfest. Aber natürlich sitzt die Bundes-SPD mit ihrer Performance immer wie der weiße Elefant mit am Tisch. "An den Infoständen werden wir sehr viel angesprochen", sagt Ageev, "dabei hat das mit unserer Basisarbeit wenig zu tun."

Aber wer soll es denn nun machen? Und finden die Genossen das Auswahlverfahren gut? Rentner Klaus-Dieter Hartmann, der früher in der Stadtverwaltung gearbeitet hat, muss zunächst ein bisschen überlegen, wen er in SPD-Spitzenposition richtig gut fand. "Willy Brandt und Helmut Schmidt – das waren schon Leuchttürme", meint er. Aber was danach kam ... Der Satz bleibt in der Luft hängen.

Jetzt mit Doppelspitze?

Dass es die SPD jetzt erstmals mit einer Doppelspitze versuchen will, findet er in Ordnung: "Man kann damit mehr Gruppierungen ansprechen." Weniger begeistert sind manche in der Runde vom Prozedere. Schon die Kandidatenfindung dauerte sehr lange, jetzt folgen im September und Oktober noch 23 Regionalkonferenzen. "Das dauert und dauert und dauert – die Leute schütteln doch nur noch den Kopf", klagt einer. "Aber wir sind total basisdemokratisch", widerspricht jemand mit Augenzwinkern.

Und außerdem: Wenn die SPD dann endlich eine neue Führung hat, bedeutet das ja nicht gleich automatisch bessere Umfragen. Genosse Hartmann sieht folgendes Dilemma: "Die SPD hat durchaus gute Arbeit in der Koalition gemacht. Auch in Brandenburg hat das Wahlprogramm 70 Seiten. Aber das sind lauter kleine Dinge, uns fehlt ein richtig großes Projekt. Das schwächt uns im Wahlkampf."

Die Grundrente für alle, steuerfinanziert und ohne Bedürfnisprüfung, das wäre eine große Sache. Doch da macht ja die CDU nicht mit. Und es ist auch schwer vorstellbar, dass ihr jener Evergreen gefällt, den die kommissarischen Parteichefs nun auf den Tisch legen. Sie wollen mit der Wiedereinführung einer Vermögensteuer jährlich bis zu zehn Milliarden Euro einnehmen.

Dass die große Koalition noch zwei Jahre – bis zum Ende der Legislaturperiode – durchhält, kann man sich hier in der Gaststätte Feierabend nicht vorstellen. "Wir müssen da raus", sagt einer, "dann sollen halt mal andere Verantwortung übernehmen."

Werner Jumpertz, aus Köln nach Brandenburg "eingewandert", hat früher die Verkehrsbetriebe geleitet. Er kennt viele Leute aus der Mittelschicht, und eines "quält mich tief in meiner Seele", wie er sagt. Den Leuten gehe es gut, sie hätten ein schönes Haus, einen Job – "aber sie wählen trotzdem die AfD". Die Wahlkämpfer haben alle schon Frustrierendes erlebt. Schöne, praktische Argumentationskarten bekamen sie von der Landespartei für den Wahlkampf. Aber viele Menschen würden gar nicht mehr zuhören, wollen nur Frust ablassen.

Mit dem Parteibuch ins Grab

"Wir müssen wieder mehr die Kümmererpartei werden", sagt der stellvertretende Ortsvorsitzende Karsten Hinz. Es kommt die Rede auf einen Stadtteil von Brandenburg, in dem die Funktionäre äußerst aktiv waren. Es gab Bürgerfeste, Kehraktionen, immer waren die Genossen unterwegs. Der Lohn dafür: 46 Prozent bei der Kommunalwahl. Für Brandenburg sagen die Umfragen der SPD 22 Prozent voraus, in Sachsen nur noch sieben. Denkt man da nicht manchmal ans Aufgeben? "Niemals", antwortet Hinz "ich werde mein Parteibuch noch mit ins Grab nehmen." (Birgit Baumann aus Berlin, 23.9.2019)