Im Gastkommentar regt der Unternehmensberater Johannes Sääf an, die Arbeitsabläufe der Justiz zu überprüfen.

Die Gerichte arbeiten am Limit. Um die Aktenberge abzuarbeiten, braucht es eine Reform der Gerichtsorganisation.
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In den Medien wurde über den eklatanten Ressourcenmangel im Bereich der Justiz und die daraus resultierenden Gefahren für den Rechtsstaat berichtet. So führe der Mangel an Schreibkräften zu Schwierigkeiten bei der Durchführung von Strafverfahren, der bereits institutionelle Mangel an Justizwachebeamten mache die Möglichkeit einer Resozialisierung im Strafvollzug schwierig, wenn nicht unmöglich. Sabine Matejka, die Präsidentin der Richtervereinigung, warnt wegen Geldnot vor langen Verfahren. Das klingt nach einer überbordenden Zunahme der Verfahren.

Weniger Prozesse

Die Fakten sprechen eine andere Sprache. Gemäß einer aktuellen Veröffentlichung des Justizministeriums ist im Bereich der zivilgerichtlichen Verfahren seit vielen Jahren ein deutlicher Rückgang festzustellen, der bei Zivilprozessen 40 Prozent, in Arbeitsrechtssachen 39 Prozent und im Bankensektor sogar 56 Prozent beträgt, womit grob gesprochen nur mehr halb so viele Gerichtsverfahren zu führen sind als noch vor 15 Jahren.

Geht man nun in die einzelnen Verfahrensarten, so sind nicht nur allgemeine zivilrechtliche Streitigkeiten, sondern auch Scheidungen und sogar Besitzstörungsverfahren deutlich zurückgegangen, auch wenn die TV-Sendung "Am Schauplatz" einen gegenteiligen Eindruck vermittelt. Gab es im Jahr 2002 rund 800.000 Zivilverfahren, so ist diese Zahl 2018 auf 440.000 gesunken. Wurden 2002 noch über 19.000 Verfahren wegen rückständiger Miete angestrengt, lag diese Zahl 2018 nur mehr bei 12.000. Auch Scheidungen gingen von über 7.000 Fällen 2002 auf 5.300 2018 zurück, Unterhaltsverfahren sind ebenfalls stark rückläufig und haben sich mehr als halbiert. Besitzstörungsfälle sind von 1.600 auf 460 praktisch auf ein Viertel gesunken.

Goldenes Zeitalter

Das "goldene Zeitalter" mit jährlichen Steigerungen von Gerichtsverfahren, beginnend in den späten 1950er-Jahren bis Mitte der 1990er-Jahre, liegt weit zurück.

Ein Blick über die Grenzen nach Deutschland zeigt ein ähnliches Bild, wo ein Rückgang der Zivilverfahren von elf Millionen im Jahr 2001 auf sechs Millionen im Jahr 2017 zu verzeichnen war.

Mögliche Ursachen

Über die Ursachen dieser für den Anwaltsstand bedrohlichen Entwicklung herrscht noch nicht vollständig Klarheit. Im Bereich der Banken und Versicherungsklagen könnte die Ursache darin liegen, dass bei den Banken verstärkt auf eine genaue Prüfung der Bonität geachtet wird und aus diesem Grund weniger Bankkredite vergeben werden. Im Bereich der Versicherungsfälle dürfte die rasche Erledigung von Kleinschäden ohne Bemühung der Gerichte maßgeblich dazu beigetragen haben, dass diese Fälle nicht mehr vor Gericht ausgestritten werden.

Die einzigen Bereiche, in denen Zuwächse bestehen, sind Privatinsolvenzen vor Bezirksgerichten und Sozialrechtssachen.

Arbeitsabläufe überprüfen

In Anbetracht dieser statistisch einwandfrei ermittelten Situation würde man meinen, dass bei einer konstanten Anzahl der beschäftigten Richter und Staatsanwälte keinesfalls von einer Überlastung der Justiz gesprochen werden kann. Das Gegenteil ist der Fall: Die Sprecher der Richter und Staatsanwälte halten dem entgegen, dass die Fälle nun eben komplexer geworden seien und daher einen größeren Arbeitsaufwand verursachten.

Hier wäre eine Überprüfung der Arbeitsabläufe dringend geboten, um festzustellen, inwieweit die angeblich höhere Komplexität der Fälle zu einer Überlastung des Justizapparates führen kann. Oder ob nicht vielmehr vorgegebene oder gewohnte Abläufe in der Justiz zu einer Vergeudung von Ressourcen führen. Am Rande sei vermerkt, dass im Bereich der Staatsanwaltschaften offenbar genügend Ressourcen für eine Vielzahl wechselseitiger Anzeigen, Stichwort "Causa Eurofighter", vorhanden sind.

Digitalisierte Justiz

Immerhin ist die Justiz seit den 1980er-Jahren schrittweise digitalisiert worden: Den Anfang machte das Grundbuch, das österreichweit elektronisch geführt wird. Es folgte das Firmenbuch, vormals Handelsregister, beides Bereiche, die aufgrund der ebenfalls vorgegebenen elektronischen Eingaben eine weitgehend elektronische Durchführung bei der Übertragung von Liegenschaften und der Eintragung von Firmen ermöglichen. Ebenso sind die Zivilklagen auf Geldleistung durch Einführung der elektronischen Mahnklage bis hin zur Exekutionsbewilligung weitgehend automatisiert. Diese auch weltweit vorbildhafte Situation im Bereich der Digitalisierung in der österreichischen Justiz sollte doch einen maßgeblichen Vorteil in der ökonomischen Abwicklung geben.

Da all diese Faktoren offenbar nicht ausreichen, um die Justiz zu entlasten, müssen die Ursachen im Bereich justizinterner Arbeitsabläufe liegen. Dazu kommt, dass Richter und Staatsanwälte in der vierjährigen Ausbildungszeit, die sie einem Richter oder einer Richterin zugeteilt absolvieren, nicht unbedingt zur Teamarbeit "erzogen" werden. Nach der Ernennung zum Richter führen die Damen und Herren ein "Einzelkämpferdasein", da ihnen die Mitarbeiter in den Abteilungen zwar zugeordnet, aber nicht unterstellt sind.

Nach einer gründlichen Untersuchung dieser nur ansatzweise genannten Faktoren müsste es möglich sein, den Justizbetrieb so weit effizienter zu organisieren, dass die in letzter Zeit wiederholt beklagten Rückstände im Bereich der Strafjustiz abgebaut und die vielfach kritisierten überlangen Strafverfahren vermieden werden können. Dazu wird auch eine Reform der Gerichtsorganisation in all ihren Teilbereichen notwendig sein. In Anbetracht der ausgeprägten Persönlichkeiten der handelnden Personen wahrlich eine Herkulesaufgabe! (Johannes Sääf, 27.8.2019)