Das geplante Gewalzschutzpaket sieht vor, dass alle Beschäftigen im Gesundheitswesen künftig die Pflicht haben sollen, bei Verdacht auf eine Vergewaltigung diese anzuzeigen.
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Die Liste der Gesundheitsberufe ist lang. Sie reicht von ÄrztInnen über Psychotherapeutinnen bis hin zu Desinfektionsassistenten. Die einen haben sehr persönlichen Kontakt mit Patientin und Patent, die anderen nur flüchtigen. Trotzdem sieht das geplante Gewaltschutzpaket, das ÖVP und FPÖ noch vor der Nationalratswahl beschließen wollen, eine Neuregelung vor, die für alle gleichermaßen gelten soll: Besteht bei Ausübung der beruflichen Tätigkeit der begründete Verdacht, dass eine Patientin oder ein Patient vergewaltigt wurde, muss dies angezeigt werden. Bisher galt die Anzeigepflicht für Gesundheitsberufe im Fall von Tod oder schwerer Körperverletzung, samt Sonderbestimmungen für Kinder und Jugendliche sowie für Volljährige, die ihre Interessen nicht selbst wahrnehmen können. Mit dem neuen Gewaltschutzpaket soll die Anzeigepflicht für das gesamte Gesundheitspersonal ab Jänner 2020 auch auf Vergewaltigung ausgedehnt werden.

Gesundheitswesen als Anlaufstelle

ExpertInnen wie Anneliese Erdemgil-Brandstätter sehen diese geplante Neuerung skeptisch. Sie war Krankenpflegerin für Psychiatrie und Neurologie und hat 20 Jahre bei der niederösterreichischen Frauenberatungsstelle Kassandra gearbeitet. Erdemgil-Brandstätter kennt somit beide Seiten, die des Gesundheitspersonals und jene der betroffenen Frauen. Seit einigen Jahren befasst sie sich zudem mit der Frage, wie internationale Standards zu Gewalt in der Ausbildung für Gesundheitsberufe implementiert werden können, und gehört einem interdisziplinären Team von Polizei, Gerichtsmedizin und Opferschutz an, das schwerpunktmäßig in den Niederösterreichischen Landeskliniken Gesundheitspersonal schult. "Das Gesundheitswesen ist die erste Anlaufstelle bei Gewalt, nicht die Polizei oder andere Hilfseinrichtungen", sagt sie. Zwar gebe es ein wachsendes Bewusstsein im Gesundheitsbereich über den richtigen Umgang mit Betroffenen von sexualisierter Gewalt sowie hilfreiche standardisierte Vorgangsweisen mit Spurensicherungssets und Checklisten. Eine wichtige klinikinterne Ressource stellen auch die Opferschutzgruppen dar.

Opfer müssen ihre Rechte kennen

Einer Anzeige sollte aber immer ein ausführliches Anamnesegespräch mit der Betroffenen vorausgehen, sagt Erdemgil-Brandstätter. Ebenso müssten Opfer sexualisierter Gewalt umfassend über Opferrechte informiert werden. Die Expertin bezweifelt, dass sich sämtliche Berufsgruppen damit auskennen, ebenso, wann ein "begründeter Verdacht" vorliegt. "Gewalt und sexualisierte Gewalt muss man erkennen, man muss sie ansprechen und alle entsprechenden Maßnahmen einleiten können – was hat eine Desinfektionsassistentin mit diesen komplexen Aufgaben zu tun?" Diese schwierigen Einschätzungen und die fachgerechte Hilfe könnten nicht von allen anzeigepflichtigen Beschäftigten im Gesundheitsbereich verlangt und umgesetzt werden.

Die derzeitig gültige Verpflichtung zur Anzeige bei Vergewaltigung sieht auch Ausnahmebestimmungen vor. So muss etwa keine Anzeige erstattet werden, wenn die Anzeige die berufliche Tätigkeit beeinträchtigen würde, deren Wirksamkeit eines persönlichen Vertrauensverhältnisses bedarf – wie beispielsweise bei Psychologen und Psychologinnen. Bei der neuen Regelung sieht Erdemgil-Brandstätter deshalb die große Gefahr, dass etwa ein Sanitäter oder eine medizinisch-technische Assistentin, für die kein Vertrauensverhältnis nötig ist, Anzeige erstatten und die Betroffene ohne deren Einwilligung in eine belastende Situation von Einvernahmen und möglichen Strafverfahren schicken.

Belastende Strafverfahren

Die Verurteilungsquoten bei Sexualdelikten sind niedrig. Im Jahr 2017 wurden 817 Vergewaltigungen angezeigt, es kam zu 107 Verurteilungen. Diese Aussicht auf den Ausgang eines Verfahrens, belastende Befragungen, eine Beweislast aufseiten des Opfers, dem in einem Prozess mitunter unterstellt wird, die Unwahrheit zu sagen, das seien schwere Belastungen für die Opfer sexualisierter Gewalt, sagt Erdemgil-Brandstätter. Statt einer Anzeigepflicht hält sie daher die Verpflichtung zu Weitervermittlung an kompetente Stellen für sinnvoller.

Rosar Logar, Leiterin der Interventionsstelle gegen Gewalt in der Familie, begrüßt grundsätzlich eine Anzeigepflicht bei einer Vergewaltigung, hält aber ebenfalls eine verpflichtende Vermittlung zu einer Opferschutzeinrichtung für den besseren Weg. (Beate Hausbichler, 27.8.2019)