Dieses Foto ging um die Welt: Die sudanesische Studentin Alaa Salah steht im Sonnenuntergang auf einem Autodach, eine Hand auf den Bauch gepresst, die andere mahnend erhoben. Sie führt die Sprechchöre der Protestierenden an, die sich um sie geschart haben und sie mit ihren Smartphones fotografieren. So entstand das Bild der jungen Frau im traditionellen weißen Kleid und mit den kreisrunden goldenen Ohrringen, das im Internet zehntausendfach geteilt wurde. Es machte Salah zur Ikone der Proteste im Sudan. Sie wurde "Kandaka" genannt, nubische Königin, eine ehrenvolle Bezeichnung für mutige Frauen. Dabei war Alaa Salah, das sagt sie auch selbst, nur eine von vielen.

Bei großen Protestbewegungen in diesem Jahr spielten Frauen weltweit eine tragende Rolle. Vielfach werden sie zum integralen Bestandteil, zum Symbol des Aufstands gegen die herrschenden Verhältnisse. Die politischen Veränderungen, die sie sich erhofft haben, erfüllen sich dann aber oft nicht. Ähnlich war es bereits beim Arabischen Frühling, wo tatsächliche Verbesserungen für den Alltag der Frauen – mit Ausnahme von Tunesien – ausblieben. Drei Beispiele, bei denen es anders werden soll.

SUDAN: Proteste mit Tradition

Bis zu 70 Prozent der Protestierenden im Sudan, schrieb die BBC, seien Frauen gewesen. Die genaue Zahl lässt sich nur schwer überprüfen, doch sicher ist, dass Frauen in den Protesten gegen Machthaber Omar al-Bashir und später gegen den militärischen Übergangsrat eine wichtige Rolle spielten. Dabei belegt der Sudan, was die rechtliche Situation von Frauen betrifft, in internationalen Erhebungen stets einen der hintersten Plätze. Mehrere Gesetze diskriminieren Frauen gezielt. Schutz vor häuslicher Gewalt gibt es kaum, Zwangsehen und Genitalverstümmelung sind nach wie vor weit verbreitet. Mädchen ab ihrem zehnten Geburtstag zu verheiraten ist im Sudan ebenso legal wie Vergewaltigung in der Ehe. Trotzdem – oder vielleicht gerade deswegen – gibt es hier eine lange Tradition engagierter Frauen. Der Anteil weiblicher Abgeordneter im sudanesischen Parlament lag vor der Revolution mit 30 Prozent höher als in manchem westlichen Staat. Auch frühere Proteste wurden vielfach von Frauen getragen.

Das weiße Kleid, das Alaa Salah auf dem Bild trägt, ist eine Anspielung darauf. Seit den 40er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts tragen sudanesische Aktivistinnen bei Protesten das traditionelle Gewand. Zu dieser Zeit bildeten sich in der ostafrikanischen Nation die ersten feministischen Vereine, die sich für das Frauenwahlrecht, gleiche Bezahlung und Karenzzeiten einsetzten und gegen die Unterdrückung protestierten. Es ist ein mit Bedeutung aufgeladenes Kleidungsstück, und Anfang dieses Jahres war es plötzlich wieder auf den Straßen Khartums zu sehen.

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Alaa Salah wurde in ihrem traditionellen weißen Gewand zur Ikone der Protestbewegung im Sudan.
Foto: REUTERS/Umit Bektas

Im Jänner hatte die Bevölkerung begonnen, gegen die Knappheit von Brot und Treibstoff zu protestieren. Schnell schlugen die Proteste in Unmut gegen Machthaber Bashir um, der das Land über dreißig Jahre lang mit harter Hand regiert hatte. Die Massenproteste zogen sich über Monate und führten im April zum Sturz Bashirs durch das Militär. Danach wandten sich die Proteste gegen den selbsternannten militärischen Übergangsrat, der das Land interimistisch regieren wollte. Ein friedlicher Sitzstreik, bei dem die Demonstrierenden eine zivile Übergangsregierung forderten, wurde Anfang Juni vom Militär mit roher Gewalt aufgelöst. Über hundert Menschen starben, viele weitere wurden verletzt. Doch die Proteste verstummten nicht, im Gegenteil: Sie dauerten an, bis Zivilisten und Militär einen Kompromiss aushandelten.

Doch bei den Friedensverhandlungen fehlte von den Aktivistinnen plötzlich jede Spur. In den sozialen Netzwerken kursierte ein Video, in dem zu sehen ist, wie die Verhandler den Sitzungssaal verlassen. Es sind dutzende Männer, erst in den letzten Sekunden des halbminütigen Videos blitzt am Bildrand das gelbe Kopftuch einer einzigen Frau auf. Als nach den wochenlangen Verhandlungen dann am 17. August das Abkommen zwischen Zivilisten und Militärs verabschiedet wurde, setzten nur Männer ihre Unterschriften auf das Papier. In den sozialen Medien protestierten zahlreiche Sudanesinnen gegen diese Missachtung ihres Einsatzes.

Feiern am 17. August nach Unterzeichnung des Abkommens für die Übergangszeit.
Foto: APA/AFP/JEAN MARC MOJON

Dennoch gibt es Hoffnung. Zwei der elf Mitglieder des neu eingerichteten Souveränen Rats sind Frauen: Aisha Musa, eine 70-jährige Linguistin und bekannte Frauenrechtlerin, und Raja Nicola Issa Abdul Massih, eine Richterin und koptische Christin. Der Souveräne Rat ersetzt für die Übergangszeit das Präsidentenamt, die beiden Frauen sind damit die ersten Sudanesinnen im höchsten Amt des Landes. Und Raja Nicolas Ernennung ist eine doppelte Premiere: Sie ist auch die erste Christin in diesem Regierungsamt, ihren Schwur leistete sie auf eine Bibel. Mit Asmaa Abdallah wird zudem erstmals eine Frau an der Spitze des sudanesischen Außenministeriums stehen. Nun können sie sich dafür einsetzen, dass die Rufe der protestierenden Frauen auf den höchsten politischen Ebenen des Sudan gehört werden.

PUERTO RICO: Kollektiver Widerstand

Auch bei den Protesten in Puerto Rico bildeten Frauen die vorderste Front. Auslöser der Demonstrationen waren hunderte Seiten geleakter Chatprotokolle, in denen Gouverneur Ricardo Rosselló, sein Vize Luis Rivera Marín und zehn weitere Vertraute unter anderem frauen- und homofeindliche Nachrichten ausgetauscht hatten. Opfer von Hurrikan María, Frauen, politische Gegner, Homosexuelle im Allgemeinen und Popstar Ricky Martin im Speziellen, Angehörige ethnischer Minderheiten, Übergewichtige, Transpersonen und viele mehr: Sie alle wurden teils derb in den geleakten Chatprotokollen beschimpft. Immer wieder auch in Verbindung mit Gewaltfantasien.

Bei der Veröffentlichung der Protokolle spielte eine Frau eine essenzielle Rolle: Die Journalistin Sandra Rodríguez veröffentlichte Anfang Juli zunächst Teile der Kommunikation auf ihrem Blog, drei Tage später stellte Puerto Ricos Center for Investigative Journalism (CPI) alle 889 Seiten online.

Angegriffen und beschimpft wurde auch die Organisation "Colectiva Feminista en Construcción", die auch schon vor den geleakten Protokollen immer wieder mit Aktionen Druck auf Puerto Ricos Regierung ausübte, etwa indem sie über mehrere Monate hinweg vor Rossellós Villa demonstrierte, um auf die grassierende Gewalt gegen Frauen in Puerto Rico hinzuweisen. Puerto Rico verzeichnete bereits im Jahr 2012 einer Studie der ACLU zufolge die höchste Rate an Frauen über 14, die von ihrem Partner getötet wurden. Die Rate an Femiziden ist in Puerto Rico sechsmal höher als im – von der Bevölkerungszahl vergleichbaren – Los Angeles. Übergriffe im Zusammenhang mit häuslicher Gewalt waren vor allem nach dem Hurrikan María, der im Herbst 2017 über der Region gewütet hatte, dramatisch angestiegen. Hilfsorganisationen, die Unterstützung im Fall häuslicher Gewalt anbieten, meldeten teils Anstiege in Anfragen um 62 Prozent. Dass diese Gewalt nach Naturkatastrophen steigt, belegen laut der WHO mehrere Fallbeispiele. Forscher sehen einen Zusammenhang mit dem Wegfall von Arbeitsplätzen und Infrastruktur und dem Fehlen von Unterstützungsnetzwerken und Hilfsangeboten.

Vor allem Frauen protestierten für die Absetzung des Gouverneurs in Puerto Rico.
Foto: APA/AFP/RICARDO ARDUENGO

Als die Protokolle öffentlich wurden, war "Colectiva Feminista en Construcción" an vorderster Front der Proteste dabei. "Die Kommentare in den Chats zeigten, dass es kein Bewusstsein dafür gibt, wie geschlechtsspezifische Gewalt sich auf Frauen auswirkt", sagte Zoán Dávila-Roldán, eine Sprecherin des Kollektivs, zur "New York Times". Doch sie weist noch auf eine zweite Ebene hin: "Dass so jemand regiert ... Menschen, die nicht nur sexistisch sind, sondern Frauen angreifen, die versuchen, so etwas wie häusliche Gewalt zu thematisieren – so jemand verdient es nicht, Gouverneur zu sein."

Mehr als zwei Wochen gingen die Menschen in Puerto Rico gegen Rosselló auf die Straße. Die Wut war groß, auch weil kurz vor der Veröffentlichung auch noch eine Korruptionsaffäre im engen Zirkel rund um Rosselló aufgeflogen war, im Zuge derer unter anderem die bisherige Bildungsministerin Julia Keleher festgenommen wurde. An der größten Demonstration nahmen schließlich rund 500.000 Menschen teil, knapp ein Sechstel der Gesamtbevölkerung des Karibik-Archipels.

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Zahlreiche Demonstrantinnen forderten den Rücktritt von Ricardo Rosselló.
Foto: REUTERS/Gabriella N. Baez

Rosselló reichte nach den über zwei Wochen andauernden Protesten seinen Rücktritt ein. An der politischen Spitze steht nun mit Wanda Vázquez zum zweiten Mal in der Geschichte Puerto Ricos eine Frau. Doch auch an ihr wurde Kritik laut: Zu eng seien die Verbindungen der Ex-Justizministerin zum früheren Gouverneur. "Sie hat sich mehr wie Rossellós Anwältin als wie eine Justizministerin verhalten", kritisierte die Demonstrantin Marta Quiles Jiménez.

Zumindest zeigte sie sich in den Wochen nach ihrer Vereidigung gesprächsbereiter als ihr Vorgänger Rosselló. Mit "Colectiva Feminista en Construcción" und anderen feministischen Organisationen traf sie bereits zu mehreren Gesprächen zusammen. Die Aktivistinnen verlangen die Ausrufung des Ausnahmezustands wegen der Gewalt gegen Frauen, Vázquez erklärte am Mittwoch zumindest den "nationalen Alarm". Die Ausrufung des Ausnahmezustands würde laut Vázquez "keine signifikante Änderung bringen", solange "wir keinen konkreten und strukturierten Plan für eine Antwort haben, und darauf konzentrieren wir jetzt mit dem nationalen Alarm unsere Bemühungen". "Sie ist nicht auf all unsere Vorschläge eingegangen", sagte eine Sprecherin des Kollektivs, "aber wir erkennen an, dass man irgendwo anfangen muss."

HONGKONG: Auge um Auge

Seit Monaten protestieren junge Frauen und Männer gleichermaßen in Hongkong für mehr Demokratie und gegen den wachsenden Einfluss Pekings. Zunächst hatten die Proteste in einer Frau ihre Symbolfigur gefunden. Eine junge medizinische Ersthelferin soll durch die Polizei – die den Vorfall abstreitet – einen Schuss mit sogenannter "Bean Bag"-Munition ins Gesicht erlitten haben. Das Geschoß, das aus Schrotkugeln in einem kleinen Säckchen besteht, durchdrang ihre Schutzbrille und verletzte ihr rechtes Auge sowie die umliegenden Knochen schwer. Fotos und Videos der Verletzten, wie sie auf der Straße von Rettungskräften versorgt wird, verbreiteten sich in rasender Geschwindigkeit im Internet.

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Demonstrierende zeigten sich mit Augenbinden solidarisch mit einer verletzten Aktivistin.
Foto: REUTERS/Thomas Peter

Die junge Frau soll nun auf ihrem rechten Auge blind sein. Seither gehen die Protestierenden aus Solidarität mit blutigen, über ihre Augen geklebten Pflastern auf die Straße. Auch Zeichnungen, Poster und Plakate werden als Hommage an die junge Frau angefertigt. Ihre Verletzung gab der Bewegung ein neues Motto: "Auge um Auge", skandieren die Protestierenden nun.

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Auch Zeichnungen, Poster und Plakate werden als Hommage an die junge Frau angefertigt.
Foto: REUTERS/Kai Pfaffenbach

Im August kam ein neues Schlagwort hinzu: Unter #ProtestToo thematisierten die Protestierenden sexuelle Übergriffe durch Polizeibeamte. Demonstrantinnen beklagten unter anderem unrechtmäßige und demütigende Durchsuchungen, die Polizei wies diese Anschuldigungen zurück. Als im August eine Befragung unter Demonstrantinnen durchgeführt wurde, gaben 46 von 221 Frauen an, seit Beginn der Proteste sexuelle Übergriffe erlitten zu haben. Die Hälfte der Frauen erfuhr Gewalt durch Beamte, acht berichteten von Vorfällen, während sie in Polizeigewahrsam waren. Die restlichen Übergriffe sollen in 18 Fällen von Peking-treuen Gegendemonstranten, in weiteren vier Fällen von Mitgliedern der Protestbewegung ausgegangen sein.

Die Frauen waren jenseits aller politischen Fronten gefährdet. Auf die Straße zu gehen ist für sie immer ein noch größeres Risiko als für ihre männlichen Gegenparts. Dass sie es trotzdem tun, ist ein Zeichen ihres Muts. An den Protesten gegen sexuelle Übergriffe in Hongkong nahmen tausende Menschen teil. (Ricarda Opis, Noura Maan, 7.9.2019)