Im Gastkommentar widmet sich Soziologe Max Haller dem Brexit, den Gründungsideen der EU und den Perspektiven: Eine Rechtsgemeinschaft kann ebenso ein politisches Gemeinschaftsgefühl erzeugen.

Der Brexit wird weithin als ein Problem von Großbritannien gesehen; seine Ursache als Versagen seiner politischen Eliten und als Missbrauch des Referendums als Methode für politische Entscheidungen. Weithin übersehen wird jedoch, dass der Brexit auch eine unmissverständliche Botschaft an die zukünftige Entwicklung der europäischen Integration enthält. Er war der erste massive Schritt der Desintegration der EU: Erstmals hat eines der vier größten EU-Mitglieder seinen Austritt erklärt. Für die EU belegt dieses historische Ereignis, dass ihr bisheriges Ziel – das kontinuierliche Bemühen um eine immer engere Union bis hin zu den "Vereinigten Staaten von Europa" – infrage zu stellen ist.

Die Gründer der europäischen Integration beriefen sich vor allem auf die jahrhundertealte Idee der Einigung Europas, durch welche die Kriege auf diesem Kontinent ein für alle Mal beendet werden sollten. Es gab jedoch zwei sehr unterschiedliche Ideen hierzu.

Mehrere Gründungsideen

Die eine sah die Gründung eines neuen Großstaates vor, der neben den USA und Russland eine weltpolitische Rolle spielen sollte. Ihr Hauptvertreter war in jüngerer Zeit vor allem der Österreicher Richard Coudenhove-Kalergi; für ihn sollten auch die europäischen Kolonien in Afrika und Übersee Teil eines "Großeuropa" sein.

Eine ganz andere Idee sah Europa nur als einen Verbund selbstständig bleibender Nationalstaaten vor. Diese Idee fußt auf dem berühmten Essay von Immanuel Kant "Zum ewigen Frieden". Für ihn war die Grundlage für einen dauerhaften Frieden die weltweite Durchsetzung republikanisch-demokratischer Staatsformen; von solchen könne man sprechen, wenn alle Menschen gleiche Rechte haben und alle sich an Verfassung und Gesetze halten. Da von Kriegen nur wirtschaftliche und politische Eliten profitieren, das Volk jedoch nur die Kosten zu tragen hat, führen demokratische Staaten viel seltener Kriege, gegeneinander überhaupt nicht.

Immer engere Union

Die tatsächliche Einigung Europas stützte sich faktisch allerdings auf das erste dieser Modelle. Dies belegen drei Fakten. 1) In allen wichtigen Dokumenten, von den Römer Verträgen 1957 bis zur Feierlichen Erklärung über die EU von Lissabon 1983, wird explizit vom Ziel einer immer engeren Union gesprochen. 2) Ein wesentlicher Grund für den Erfolg der Integration war die Monnet-Methode. Sie besagt, dass die Ideen zur Integration von einem Kreis von Eliten auszuarbeiten sind, dass man mit Elementen ökonomischer Integration beginnt und diese dann – wenn es keine lauten Proteste gibt – Schritt für Schritt erweitert und durch politische Integrationsschritte ergänzt; die Zustimmung der Bevölkerung soll durch Strategien der Überredung von deren Sinnhaftigkeit erreicht werden. 3) Die Erweiterungsschritte wurden nahezu immer auch durch geopolitische Erwägungen geleitet. Das zeigte sich bereits bei der Süderweiterung in den 1980er-Jahren – bei der Aufnahme von Griechenland -, dann bei den Osterweiterungen 2004 und 2006, die für viele Länder, insbesondere Bulgarien und Rumänien, deutlich rascher erfolgten als geplant, und vor allem bei den Verhandlungen mit der Türkei.

Mit der Türkei wurde bereits 1962 ein Handelsabkommen geschlossen, und 2000 wurde erklärt, sie erfülle alle Kriterien für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen. Dies trotz massiver Vorbehalte, nicht nur wegen der Tatsache, dass sie ein islamisches und weniger entwickeltes Land ist als alle EU-Mitglieder, sondern deshalb, weil die Demokratie in der Türkei noch lange nicht gefestigt ist. Seit 1945 putschte das Militär viermal. Heute, unter Präsident Tayyip Erdoğan, wird die Opposition massiv unterdrückt, Hunderttausende verloren ihre Jobs im öffentlichen Dienst wegen politischer Unzuverlässigkeit.

Eine Rechtsgemeinschaft

Dass die Bürgerinnen und Bürger keine Vereinigten Staaten von Europa wünschen, zeigten bereits 2005 die Franzosen und Niederländer, als sie mit großen Mehrheiten die "Verfassung für Europa" ablehnten, die als Schritt zu einem echten Staat verstanden wurde. Wie beim Brexit spielten auch in diesen Abstimmungen Themen wie die Bewahrung der nationalen Selbstbestimmung, die eigene Kontrolle von Zuwanderung, das Demokratiedefizit der EU und die Förderung einer neoliberalen Wirtschaftspolitik durch sie eine zentrale Rolle. Genau die gleichen Argumente stehen hinter der wiederholten Weigerung der Norweger und Schweizer Bevölkerung – im Gegensatz zu ihren Eliten -, der EU beizutreten.

Aus all diesen Fakten folgt nicht, dass die EU überhaupt infrage zu stellen ist. Man muss sie jedoch anders interpretieren: als eine Rechtsgemeinschaft. Auch die weitgehende Übernahme gleicher Grundrechte kann ein politisches Gemeinschaftsgefühl erzeugen (Max Weber).

Gewinner und Verlierer

Eine Rechtsgemeinschaft würde jedoch einen Verzicht auf klassische Regierungsfunktionen und materielle Umverteilung implizieren, wie sie etwa die Agrar- und Strukturpolitik darstellen. Regionale Ungleichheiten könnten auch durch nichtfinanzielle Maßnahmen wie selektive Steuernachlässe erreicht werden. Auch die Währungsunion erfordert keinen gemeinsamen Finanzhaushalt, wenn man sie wie manche Ökonomen als eine Absicherung gegen monetäre Instabilitäten versteht, denen kleine Währungen stärker ausgesetzt sind.

Welche Lehren ergeben sich aus dem Brexit für die Zukunft der Demokratie? Der Brexit und der Aufstieg populistischer Politiker stellen kein Versagen der Demokratie an sich dar, sondern eines der Rolle der Parteien und der Auswahl der Politiker. Offensichtlich ist das strikte Mehrheitsprinzip der angloamerikanischen Politik ("the winner takes all") an seine Grenzen gestoßen; diese Länder könnten durchaus von europäischen Staaten lernen, in denen Verhandlungen und Kompromisslösungen eine größere Rolle spielen.

Weiters erscheint auch die Folgerung unangebracht, die direkte Demokratie sei keine geeignete Ergänzung der repräsentativen Demokratie. Im Falle des Brexits wurden nämlich praktisch alle Voraussetzungen vernachlässigt, welche für einen adäquaten Einsatz direkter Demokratie notwendig sind: ausreichende Zeit für die Vorbereitung und Diskussion, objektive und umfassende Information der Öffentlichkeit und klare Festlegung der Bedingungen, unter welchen ein Referendum als bindend zu betrachten ist. Wenn diese Bedingungen erfüllt sind, gibt es kaum völlig "überraschende" Ergebnisse und die Bevölkerung unterstützt – wie das Beispiel Schweiz zeigt – die direkte Demokratie nahezu vorbehaltlos. (Max Haller, 29.8.2019)