Der Schädel aus der äthiopischen Afar-Region ist 3,8 Millionen Jahre alt.
Foto: CMNH/Dale Omori

Der kompliziert verästelte Stammbaum des Menschen führt bekanntlich nach Afrika. Vor etwa 2,5 Millionen Jahren entwickelten sich dort aus einer Art der sogenannten Australopithecinen die ersten Vertreter der Gattung Homo, die später auch den berühmt-berüchtigten Homo sapiens hervorbrachte. Der älteste Australopithecus, der unumstritten in unserer langen Ahnenreihe steht, ist Australopithecus anamensis: In den 1990er-Jahren stießen Forscher in Kenia auf Überreste dieses Vormenschen. Die rund vier Millionen Jahre alten Funde beschränkten sich allerdings auf Kieferknochen und Zähne – bis jetzt.

Denn nun hat ein internationales Forscherteam einen etwas jüngeren, bemerkenswert gut erhaltenen Schädel dieser Art entdeckt und liefert damit nicht nur neue Einblicke in das Erscheinungsbild von Australopithecus anamensis. Wie die Wissenschafter im Fachblatt "Nature" berichten, wirft der Fund auch ein neues Licht auf die frühe Evolution der Hominini – und wirft gleichzeitig eine gängige Annahme dazu über den Haufen.

Die Forscher konnten erstmals das Gesicht von Australopithecus anamensis nachbilden.
Foto: CMNH/MattCrow

Fund in der Afar-Region

Der Sensationsfund gelang den Wissenschaftern um Yohannes Haile-Selassie vom Cleveland Museum of Natural History und Stephanie Melillo vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig im Grabungsgebiet Woranso-Mille in der äthiopischen Afar-Region. Zunächst wurde dort 2016 ein intakter Oberkiefer gefunden, nach und nach legte das Grabungsteam in der Umgebung dann weitere Teile frei.

Schließlich konnten die Fragmente zu einem erstaunlich vollständigen Schädel zusammengefügt werden. "Ich habe meinen Augen nicht getraut, ein Traum wurde wahr", erinnert sich Haile-Selassie. Von welcher Art der Schädel stammt, war zunächst freilich noch unklar.

Das Fossil ist überraschend vollständig erhalten.
Foto: CMNH/Dale Omori

Anhand der morphologischen Merkmale gelang den Forschern aber schon bald die Identifikation des, wie sich zeigte, erwachsenen männlichen Toten. "Die Beschaffenheit des Oberkiefers und eines Eckzahns war ausschlaggebend dafür, den Schädel A. anamensis zuzuordnen", sagt Melillo.

3,8 Millionen Jahre alt

Das Alter konnte wiederum mithilfe geochemischer Analysen und der magnetischen Eigenschaften der Gesteinsschichten am Fundort ermittelt werden: Wie Beverly Saylor von der Case Western Reserve University und Kollegen in einer zweiten Studie in "Nature" berichten, starb das Individuum vor 3,8 Millionen Jahren.

Die geologische Studie brachte auch Details über den Lebensraum dieses Australopithecus ans Licht: Demnach war das Umland sehr trocken, der Fundort selbst lag aber in einem Delta, wo ein Fluss in einen See mündete. An den Ufern der Gewässer gab es damals Wälder, so Saylor. Um mehr über den Speiseplan des Toten herauszufinden, sind genaue Zahnuntersuchungen geplant.

Dieser Vormensch hatte noch ein ziemlich kleines Gehirn, seine Eckzähne erinnern aber schon an spätere Hominini.
Foto: CMNH/MattCrow

Die Vollständigkeit des Fundes erlaubt auch einen bisher beispiellosen Blick auf diesen Vormenschen: Mithilfe moderner forensischer Methoden konnten die Wissenschafter sein Antlitz rekonstruieren. Melillo: "Es ist gut, dem Namen endlich auch ein Gesicht geben zu können."

Lucys Verwandtschaft

Zum Erstaunen der Forscher weisen Schädel und Gesicht sowohl einfache als auch komplexere Charakteristika auf: Einige Merkmale ähneln denen späterer Arten, andere erinnern wiederum an weitaus frühere menschliche Vorfahren wie Ardipithecus und Sahelanthropus, die vor vier bis sieben Millionen Jahren lebten.

Die evolutionären Verzweigungen von A. anamensis betrifft auch die überraschendste Implikation der neuen Studie. Denn seit langer Zeit nehmen Anthropologen an, dass sich Australopithecus anamensis im Lauf der Zeit zu Australopithecus afarensis wandelte. Diese jüngere Spezies erlangte vor allem durch das nahezu vollständige Skelett einer rund drei Millionen Jahre alten Vertreterin, genannt Lucy, über die Fachwelt hinaus Berühmtheit.

Offenbar lebten A. anamensis und A. afarensis beträchtliche Zeit Seite an Seite, ehe es zur Stammesverzweigung kam.
Foto: CMNH/MattCrow

Unerwartete Zeitgenossen

Nun aber stellte sich heraus, dass beide Arten über einen beträchtlichen Zeitraum in derselben Region zusammenlebten: Denn die Forscher konnten ein bereits 1981 ebendort gefundenes Schädelfragment mit strittiger Zuordnung eindeutig als A. afarensis identifizieren.

Dieses Fossil ist 3,9 Millionen Jahre alt – also ganze 100.000 Jahre älter als der neu entdeckte Schädel des "Vorfahren" A. anamensis. "Das verändert unser Verständnis des evolutionären Prozesses und wirft neue Fragen auf", sagt Melillo. "Konkurrierten diese beiden Arten um Nahrung oder Lebensraum?" (David Rennert, 29.8.2019)