Die politische Macht kommt aus den Gewehrläufen", heißt es in Band 2 der "Ausgewählten Werke des Vorsitzenden Mao Zedong". An dieser Feststellung hat sich in der Volksrepublik China bis heute nichts geändert. Neben grobschlächtiger analoger Gewalt allerdings setzen Maos Nachfolger zunehmend auch hochkomplexe digitale Mittel ein, um ihren totalen Machtanspruch durchzusetzen. Staats- und Parteichef Xi Jinping lässt seit geraumer Zeit intensiv an einer Diktatur 4.0 programmieren. Und dieser Tage zeigt sich, dass der Weg von der Betaversion zum Rollout einer umfassenden und voll funktionsfähigen Techno-Autokratie nicht mehr weit ist.

Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping setzt hochkomplexe digitale Mittel ein, um einen totalen Machtanspruch durchzusetzen.
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Zentraler Baustein darin ist das Sozialkreditsystem, das neuerdings nicht nur das von der Kommunistischen Partei definierte "Wohlverhalten" von Individuen misst, sondern auch jenes von (in- und ausländischen) Unternehmen. Deswegen schlägt die deutsche Handelskammer nun Alarm. Die Chinesen selbst scheinen dem Projekt nicht so skeptisch gegenüberzustehen. In einer deutschen Studie Ende 2018 sprachen sich 80 Prozent der befragten Chinesen für das Sozialkreditsystem aus. Ein Grund für die Zustimmung ist, dass es in China kein Gerichtsvollziehersystem gibt, mit dem berechtigte Forderungen eingetrieben werden könnten. Einen zweiten Grund nannte die deutsche China-Expertin Kristin Shi-Kupfer unlängst beim Morning-Briefing des STANDARD auf dem Forum Alpbach: "Die Chinesen wissen sehr wenig über das System."

Das wird sich ändern, je mehr davon implementiert ist. Schon 2018 wurde 20 Millionen Bürgern wegen niedrigen Sozialpunktestandes eine Zug- oder Flugreise verweigert. Die Panik der kommunistischen Mandarine vor Aufruhr, aus der die digitalisierte Diktatur erwächst, hat das Potenzial, den Volkszorn erst recht anzuheizen. Politische Macht und Ohnmacht können aus Glasfaserkabeln kommen. (Christoph Prantner, 29.8.2019)