Seit dem Amtsantritt musste Boris Johnson erst einen Tag lang dem Parlament Rede und Antwort stehen – so könnte es weitergehen.

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Im Brexit-Poker zwischen Regierung und Parlament hat Boris Johnson am Mittwoch den Einsatz erhöht. Mit Verweis auf seine Pläne für Reformen im Gesundheitswesen, bei den Schulen und in der Kriminalitätsbekämpfung kündigte der konservative britische Regierungschef eine knapp fünfwöchige Zwangsschließung des Unterhauses sowie eine neue Regierungserklärung für Mitte Oktober an. In Wirklichkeit wolle der Premierminister die Brexit-Debatte abwürgen, wetterten Abgeordnete der Opposition, aber auch aus Johnsons eigener Fraktion. Es handle sich um einen Verfassungsverstoß, teilte der Parlamentspräsident, Speaker John Bercow, mit.

Frage: Was will Johnson erreichen?

Antwort: Eigentlich gehört eine von der Regierung angeordnete, formal aber bei der Queen beantragte – und mittlerweile auch genehmigte – Zwangspause des Parlaments zur Normalität. Die "prorogation" schließt eine Parlamentsession ab. Die neue Periode eröffnet Queen Elizabeth II, indem sie das neue Regierungsprogramm (Queen's Speech) verliest.

In einem Brief an alle 650 Abgeordneten des Unterhauses verwies der Premier darauf, dass die derzeitige Session nach der Wahl im Juni 2017 begann und bereits 340 Sitzungstage währt – so lange wie keine andere seit mehr als 350 Jahren. Mit seiner "neuen" Regierung habe er das Recht, dem Parlament und dem Land sein "fantastisches" Programm vorzustellen, argumentierte Johnson. Nach der Queen's Speech, die für 14. Oktober geplant ist, sei reichlich Gelegenheit zur Prüfung seiner Brexit-Politik.

Ausdrücklich nahm der Regierungschef Bezug auf den EU-Gipfel am 17. und 18. Oktober, von dem er sich eine neue Austrittsvereinbarung erhofft. Dem Parlament bleibe dann immer noch genug Zeit, den neuen Vertrag zu verabschieden. Auf jeden Fall werde die Insel am 31. Oktober aus der EU ausscheiden – notfalls auch ohne Vertrag (No Deal).

Frage: Wie reagiert die Opposition?

Antwort: Es sei "vollkommen klar, dass eine Diskussion über den Brexit verhindert werden solle", betonte Speaker Bercow. Die schottische Ministerpräsidentin Nicola Sturgeon von der Nationalpartei SNP sprach vom "Tag, an dem unsere Demokratie verstarb".

Eine "Kriegserklärung" ans Parlament sah der Liberaldemokrat Tom Brake; ein "verfassungsrechtliches Verbrechen" konstatierte der Konservative Philip Hammond, der bis vergangenen Monat als Finanzminister amtierte.

Sein Kollege vom liberal-konservativen Flügel der Regierungspartei, Dominic Grieve, glaubt, ein Misstrauensvotum gegen Johnson schon kommende Woche sei wieder wahrscheinlicher geworden. Dieser Weg war erst am Dienstag bei einem Treffen aller Oppositionsfraktionen verworfen worden. Stattdessen werde man sich auf ein Gesetz konzentrieren, das den No Deal illegal machen würde, beschloss die Versammlung, die auf Einladung von Labour-Oppositionsführer Jeremy Corbyn zusammengekommen war.

Frage: Wie können die Parlamentarier Johnsons Plan vereiteln?

Antwort: Die Gegner von No Deal stehen nun unter Zugzwang. Nach bisheriger Planung tagt das Unterhaus nach seiner Sommerpause ab 3. September lediglich zwei Wochen lang, ehe die Session erneut für drei Wochen wegen der Parteitage von Tories, Labour und Liberaldemokraten unterbrochen wird. Eine Absage dieser Unterbrechung müsste mehrheitlich im Parlament beschlossen werden; die Aussichten dafür stehen schlecht, weil die Parteien kein Interesse daran haben, ihre lukrativen Jahrestreffen zu verkürzen oder ganz abzusagen.

Mehr als 70 Angehörige des Ober- und Unterhauses gehen den Gerichtsweg: Am 6. September berät das Sessionsgericht im schottischen Edinburgh über ihren Antrag, die "prorogation" für ungesetzlich zu erklären. Das oberste schottische Gericht hatte bereits Johnsons Vorgängerregierung unter Theresa May Zügel angelegt, als es um No Deal zum angepeilten Termin im vergangenen März ging.

Professorin Meg Russell, eine Verfassungsexpertin vom Londoner University College, wies am Mittwoch darauf hin, der amtierende Premierminister sei seit seinem Amtsantritt wegen der Sommerpause lediglich einen Tag lang der Kontrolle durch das Parlament ausgesetzt gewesen – dabei stehe die "Rechenschaftspflicht der Regierung gegenüber dem Unterhaus im Zentrum unserer Demokratie". (Sebastian Borger aus London, 29.8.2019)