Hongkong – China hat Insidern zufolge Zugeständnisse der Hongkonger Regierungschefin Carrie Lam an die Demonstranten in der früheren britischen Kronkolonie verhindert. Lam habe nach Reuters-Informationen der Führung in Peking im Sommer einen Bericht mit ihrer Bewertung der fünf Kernforderungen der Demonstranten in der chinesischen Sonderverwaltungszone geschickt.

Lam sei in ihrer Analyse zu der Schlussfolgerung gekommen, dass eine Rücknahme des umstrittenen Gesetzentwurfs zur Auslieferung Beschuldigter von Hongkong an Festlandchina, der Anlass der Demokratieproteste war, die Lage entschärfen könne. Die chinesische Regierung habe Lams Vorschlag zur Rücknahme des Gesetzentwurfs aber damals abgelehnt und sie angewiesen, keinerlei Zugeständnisse an die Demonstranten zu machen.

An dem Gesetzesentwurf hatten sich die Massenproteste vor einigen Monaten entzündet, da Bürgerrechtler einen zunehmenden Einfluss Chinas in Hongkong befürchten. Die Führung in Peking verurteilt die Proteste und wirft ausländischen Regierungen vor, die Unruhen zu schüren. Lam hat den Auslieferungsgesetzentwurf zwar für tot erklärt, weigert sich aber, explizit von einer Rücknahme zu sprechen und lässt mittlerweile die Polizei immer härter gegen die Demonstranten vorgehen.

Mehrere Festnahmen

In den vergangenen Tagen wurden mehrere prominente Aktivisten der Protestbewegung in der chinesischen Sonderverwaltungszone festgenommen. Der auch international bekannte Bürgerrechtler Joshua Wong sei Freitagfrüh auf dem Weg zu einer U-Bahn-Station in einen weißen Minivan gezerrt, festgenommen und auf eine Polizeiwache gebracht worden, teilte seine regierungskritische Partei Demosisto mit. Chow war für seine Rolle bei den Studentenprotesten von 2014 heuer bereits zwei Monate in Haft. Bei den Wahlen im vergangenen Jahr durfte er nicht nicht kandidieren, weil sich seine Partei für fortwährende Selbstbestimmung Hongkongs einsetzt. Auch seine Mitstreiterin Agnes Chow wurde am Freitag an einem anderen Ort festgenommen.

Chow und Wong wird vorgeworfen, am 21. Juni vor einer Demonstration vor dem Pollizeihauptquartier "andere zu einer nichtgenehmigten Versammlung angestiftet" und selbst "wissentlich an verbotenen Protesten teilgenommen" zu haben. Seine Rolle bei den aktuellen Demos dürfte aber überschätzt werden, handelt es sich doch großteils um eine führungslose Bewegung, die sich über soziale Netze organisiert. Chow war zwar bei Demos dabei und befürwortete in sozialen Medien immer wieder die Proteste, verhielt sich ansonsten in den vergangenen Wochen aber relativ ruhig.

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Joshua Wong wurde am Freitag verhaftet.
Foto: REUTERS/Jorge Silva

"Es gibt keinen Anführer oder keine führende Plattform dieser Proteste", schrieb er kürzlich. "Wenn jemand die Menschen auf die Straße drängt, dann ist es die raue, politische Gewalt von Carrie Lam", schrieb Chow.

Bereits am Donnerstagabend war einem Medienbericht zufolge der Anführer der verbotenen Hong Kong National Party, Andy Chan, auf dem Flughafen der Millionenmetropole festgenommen worden, von wo aus er nach Japan fliegen wollte. Laut der Nachrichtenseite "Hong Kong Free Press" wird ihm die Teilnahme an Krawallen und ein tätlicher Angriff auf einen Polizisten vorgeworfen. Mehr als 800 Menschen wurden während der aktuellen Proteste bereits festgenommen.

Warnsignale aus China

Wenngleich eine für Samstag geplante Großdemo mangels fehlender polizeilicher Genehmigung abgesagt werden musste, um potenzielle Teilnehmer nicht zu gefährden, dürften die Verhaftungen neuen Unmut befeuern. Auch weil sich am Samstag der chinesische Vorschlag zu direkten Wahlen in Hongkong mit ausschließlich von Peking ausgewählten Kandidaten zum fünften Mal jährt. Auch damals gab es Proteste, Wong und Chow führten diese bereits damals an.

Bereits am Wochenende hatte ein Foto des "New York Times"-Fotografen Lam Yik Fei für Aufsehen gesorgt. Es zeigt einen Polizisten, der seine Waffe direkt auf den Körper eines unbewaffneten Demonstranten richtet. Viele verglichen die Szene mit dem Bild jenes Mannes, der sich vor 30 Jahren auf dem Tian'anmen-Platz den Panzern entgegenstellte. Der Protestierende flehte den Polizisten an, nicht zu schießen, und fiel auf seine Knie. Nach ein paar Tritten gegen den Körper bewegte sich der Polizist langsam zurück, und der Demonstrant erhob sich. Da entstand das Foto. Es fielen keine Schüsse.

Auch deshalb gab es neue Drohungen aus China. Die staatliche Zeitung "China Daily" warnte in einem Leitartikel vor einer Eskalation der Lage. Sollte es dazu kommen, hätten die in der Sonderverwaltungszone stationierten chinesischen Soldaten "keinen Anlass, untätig zuzuschauen", schrieben die Autoren. Die Anwesenheit des chinesischen Militärs sei "nicht rein symbolisch".

Proteste gegen sexuelle Gewalt

Bereits am Mittwochabend war der Chater Garden, ein öffentlicher Park im Zentrum Hongkongs, plötzlich von tausenden violetten Lichtern erleuchtet. Die Teilnehmer der Aktion – die Organisatoren sprachen von 30.000, die Polizei von 11.500 Menschen – hatten violette Filter vor den Leuchten ihrer Smartphones angebracht. So wollten sie Aufmerksamkeit auf ein Thema lenken, das am Rande der seit Monaten andauernden Massenproteste aufgekommen war: sexuelle Übergriffe der Behörden auf festgenommene Demonstrantinnen.

Violettes Licht als Warnsignal gegen sexuelle Übergriffe.
Foto: APA / AFP / Philip Fong

Zwei prominente Vorfälle

Auslöser der Proteste waren zwei Vorfälle, die sich im August rund um Proteste in der Finanzmetropole ereigneten. Anfang des Monats wurde eine Demonstrantin an der Tin Yiu Plaza in Tin Shui Wai von fünf Polizistinnen und Polizisten festgenommen und an Armen und Beinen weggetragen. Dabei verrutschten Kleid und Unterwäsche der Frau, ihre Rufe nach weiblichen Beamten und die Bitte, sie zu bedecken, blieben ungehört. Videos und Fotos der Festnahme verbreiteten sich im Internet und riefen wütende Reaktionen hervor. Die Hongkonger Polizei gab in einer Stellungnahme bekannt, dass sich die Frau ihrer Festnahme gewalttätig widersetzt habe. Sie sei zuerst von drei Polizistinnen verhaftet worden, die beiden männlichen Beamten seien erst nachher als Verstärkung hinzugestoßen.

Der andere Fall betrifft eine junge Frau, die unter dem Pseudonym Ms. Lui an die Öffentlichkeit ging. Sie wirft der Polizei vor, sie einer unrechtmäßigen und demütigenden Durchsuchung unterzogen zu haben, nachdem sie auf einer Demonstration festgenommen worden war. Zwei Polizistinnen hätten sie gezwungen, sich vollständig zu entkleiden, während zehn bis fünfzehn Polizisten vor der Tür gestanden seien. Die Durchsuchung habe fünfzehn bis dreißig Minuten gedauert.

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Die Demonstration stand unter dem Motto #ProtestToo, eine Verquickung des Wortes Protest und dem Hashtag #MeToo.
Foto: Reuters / Anushree Fadnavis

Polizei bestreitet Übergriffe

Eine Sprecherin der Hongkonger Polizei bestritt die Vorwürfe. Die Rechte der Frau seien stets gewahrt worden, auch würden Aufnahmen einer Überwachungskamera zeigen, dass sie nur vier Minuten lang durchsucht worden sei. Weiters habe sich keine größere Gruppe männlicher Polizisten vor der Tür befunden. Bisher seien auch keine formellen Beschwerden bei der Polizei eingelangt.

Die beiden Betroffenen traten auf der Demonstration zusammen mit sechs weiteren Frauen auf, die im Rahmen der Proteste sexuelle Übergriffe erfahren hatten. Teils vermummt, um ihre Identitäten zu schützen, berichteten sie über ihre Erfahrungen. Das Problem, so die Demonstrierenden, sei gravierend. Die Organisation Association Concerning Sexual Violence Against Women (ACSVAW) hatte im August eine Befragung unter Demonstrantinnen durchgeführt. Dabei gaben 46 von 221 befragten Frauen an, seit Beginn der Proteste sexuelle Übergriffe erlitten zu haben. Die Hälfte der Frauen erfuhr Gewalt durch Beamte, acht weitere Frauen berichteten von Vorfällen, während sie in Polizeigewahrsam waren. Die restlichen Übergriffe sollen in 18 Fällen von Peking-treuen Gegendemonstranten, in weiteren vier Fällen von Mitgliedern der Protestbewegung ausgegangen sein.

Fotos und Videos der Demonstration wurden unter dem Hashtag #ProtestToo in den sozialen Netzwerken geteilt. Das Schlagwort ist eine Anspielung auf den bekannten Hashtag #MeToo. Viele Protestierende schrieben sich das Motto auch mit Lippenstift auf die Haut. Die Demonstration war im Vorfeld von den Behörden genehmigt worden. Eine für Samstag geplante Massendemonstration wurde indes verboten. (faso, Ricarda Opis, 29.8.2019)