Foto: Heidi Seywald

Es ist das Ritual, das jeden Teilnehmer auf das zurückstößt, was er ist, und zwar im Kern: der Elternabend am Beginn des Schuljahres. Wir haben die Alleinerzieherin mit Autoritätsproblem, die zu spät kommt, die Elternteile voller Ungeduld mit genau keiner Zeit für den Quatsch und Zorn über Unpünktlichkeit. Türkischstämmige Väter der dritten oder vierten Generation, je nach konservativem Belieben mit oder ohne Ehefrau, ein syrisches Paar, das schweigt, ein paar Leute, denen alles egal ist, man geht nachher dafür in die Pizzeria, darunter ein jovialer, rotwangiger Vater, der gerne laut lacht. Die vierfache Mutter mit Freude am Funktionieren von Strukturen, der engagierte Patchworkvater, der sich hier in der Stiefkindklasse befindet und darauf wartet, das pfiffige Wort "Bonuspapi" zu sagen, eine junge Mutter mit Regenbogenbrille, deren Kind ein Pride-Kind ist, also eines mit gleichgeschlechtlichen Eltern, sowie die wohlwollende Lehrerin, die ihren ganzen Stolz daraus ziehen müsste, dem Impuls widerstanden zu haben, anlässlich des Elternabends seit 14 Uhr mit Prosecco vorzuglühen. An ihrer Seite sitzt die neue, junge Begleitlehrerin, selbst frisch aus der Schule, die nicht genau weiß, was auf sie zukommt, aber sich fest vorgenommen hat, sich über alles zu freuen. Komme, was wolle.

Dann der Unwohlsein-Super-GAU

Die Begrüßung der Lehrerin ist herzlich. Sie freue sich auf ein weiteres schönes Schuljahr mit den Kindern, die in dieser Klasse wirklich besonders lernbegierig seien. "Ich freue mich auch sehr!", platzt die Begleitlehrerin heraus. Es folgt ein kleiner Vortrag darüber, wie sehr sich das Arbeitsleben von Pädagoginnen und Pädagogen heute in vermehrt administrativen Tätigkeiten für die öffentlichen Stellen verschlechtert habe, weg von der Arbeit mit den Kindern, die doch so wichtig seien. Betroffenheit. Was machen wir jetzt? "Die Politik!", wird geseufzt, und ein, zwei plakative Sätze werden darüber abgesetzt, wie verkrustet die Strukturen doch sind. Man ahnt, dass wir wohl nicht die Runde sind, die etwas zu ändern vermag. Ich beschließe für mich, meine Kinder mehr Wissenschaftsdokus schauen zu lassen.

Danach Vorstellungsrunde, damit jeder auf dem Schirm hat, wer wessen Vater oder Mutter ist. "Und Bonuspapi!", ruft selbiger dazwischen. Das ist mein Unwohlsein-Super-GAU, deswegen erzähle ich jedes Jahr etwas anderes über mein Leben. Ich bin Autorin. Geschäftsführerin eines Start-ups. Hausfrau. Dieses Jahr bin ich Nachhaltigkeitsbeauftragte einer Firma. Ich bereue das bitter, ein paar Eltern kündigen an, nachher ein paar Fragen an mich zu haben. Danke, Greta Thunberg. Die Managerinnen und Manger unter uns erklären gleich, was sie alles für die Klasse heuer checken können. Nichts davon wird passieren. Das syrische Paar schweigt. Die Lehrerin stellt uns die beiden vor. Sie hören ihre Namen und lächeln. Wir bekommen Zettel ausgeteilt. Eine Einkaufsliste für Schulmaterialien, einen groben Überblick über Termine und Aktivitäten im Laufe des Schuljahres, Einverständniserklärungen, Menüpläne. Die getauften Kinder dürfen vom Religionsunterricht abgemeldet werden. Die Nichtgetauften müssen angemeldet werden. "Ich freu mich so!", sagt plötzlich die Begleitlehrerin aus dem Nichts, in das Nichts. Die Mutter mit dem Pride-Kind steht auf und erklärt ausführlich, wieso sie es getauft haben, obwohl man es unkonventionell erziehe. Es folgt eine Kreuz-im-Klassenzimmer-Diskussion, die damit endet, dass sich eine der Pizzeriamütter mit Tränen in den Augen darüber kränkt, dass Traditionen doch auch solche sein dürfen. Der Joviale meint aber, dass man jene der Hexenverbrennungen auch nicht nachspielen dürfe heute, so in der Volksschule. Schon rein aus feuerpolizeilichen Gründen. Ich spiele unter dem Tisch Candy Crush.

Der Bonuspapi zeigt schließlich auf. Die Lehrerin lächelt und meint, es wäre nicht unbedingt notwendig, aufzuzeigen. Unbeirrt hält er den Arm weiter oben: "Wir müssen über warme Mehlspeisen in der Schulkantine sprechen. Das geht nicht." "Koch ihm doch ein Bonus-Pappi", wiehert der Joviale. Schnurstracks kommen die Themen Zucker, bio, vegan, ökologischer Fußabdruck von Lebensmitteln, Essenshysterie, gesunde Jause, Verträglichkeit von naturtrüben Säften, Fleisch als Volksdroge sowie eine neue Sicht auf die Jagd heutzutage, denn Wildfleisch sei doch wohl noch das einzig vertretbare, aufs Tapet. Dann gibt es noch ein großes Hallo darüber, dass der Joviale über den Sommer mit der milden Ableitungsdiät nach F. X, Mayr acht Kilo abgenommen habe. Wir bringen zusätzlich in Erfahrung, dass man enorme Mengen, ohne viel zu essen, in die Toilette absetzt, wenn man Bittersalz zu sich nimmt. Meine Sitznachbarin flüstert mir einen Häschenwitz aus den 1980er-Jahren zu: "Das Häschen ruft in der Milchfabrik an. 'Haddu Milch?' 'Ja.' 'Haddu auch Fettarme?' 'Ja, habe ich auch!' 'Muddu langärmelige Hemden tragen!' " Zum Schluss stimme ich gegen warme Mehlspeisen, denn Palatschinken sind eines der Gerichte, die ich selbst hinbekomme. Wir erfahren von der Regenbogenmutter, dass ihr Pride-Kind bis zum vierten Lebensjahr Verdauungsprobleme gehabt hat. Ihr wird Schweigen entgegengebracht, es war kein Leben mehr in der Diskussion.

Wieso schon wieder Eislaufen?

Dann kommt das Thema Geld. Es seien 100 Euro in die Klassenkasse einzuzahlen. Es beginnt das Schauspiel eines getrennten Elternpaares, das sich quer durch die Klasse zuruft, wer das aufzubringen hat oder ob jeder von ihnen 50 Euro bezahlt. Wir freuen uns aufrichtig, als man diesbezüglich zu einer Lösung kommt. Ich bin traurig, dass ich nüchtern bin. Es gibt auch ein neues Klassenhandy, bereitgestellt von Frau X. Die vierfache Mutter mit der Freude an Strukturen erhebt sich stolz. Zwei Leute applaudieren. Es ist sehr peinlich. Ein türkischstämmiger Vater verlangt nach der Privatnummer der Lehrerin, weil sein Timur sich manchmal bei den Hausübungen nicht auskennt. Sie bedauert, nein, das geht nicht, dafür gebe es eben das Klassenhandy. Danach wird darüber sinniert, welche Notfälle es denn geben könnte, wieso man doch ihre Nummer brauche. Ich entdecke ein Jump-and-Run-Spiel auf meinem Handy und freue mich.

Antrag abgelehnt

Das Thema Schulfotograf sollte eines sein, das man schnell mit der Bekanntgabe eines Termins abhandeln könnte. Doch nein, eine der Pizzeriamütter wird plötzlich kreativ und beginnt, Locations aufzuzählen, die für ein Fotoshooting der Kinder besser geeignet wären als die Klasse. Der Turnsaal, die Kinder von Geräten runterhängend. Die Kantine, die Kinder mit Besteck jonglierend. Die Bibliothek, die Kinder lesend, für das Foto kurz aufblickend. Der Antrag wird abgelehnt, man will ja auch nicht, dass die Kinder auf den Fotos ihre Namen tanzen, witzelt jemand. Jetzt abgesehen davon, dass das eine lange Fotoserie werden würde, feixt der Joviale. Seine Tochter heißt Annamaria-Sophia, mit dem Rufnamen Annamaria-Sophia. Und weil schon alle so in Fahrt sind, wird bemäkelt, dass schon wieder Eis laufen gegangen wird dieses Jahr, auf das hätte eh kein Schwein Lust, und überhaupt, wie kommt denn der absurd hohe Klassenkassenbeitrag zustande, man könne sich ja nicht einmal mehr eine öffentliche Schule leisten. Die Lehrerin versucht, das Gespräch auf Regeln darüber zu richten, wann man wofür eine ärztliche Bestätigung brauche. Das interessiert die meisten tatsächlich. Die Lehrerin ist baff.

Und dann ist sie da, die dramaturgische Talsohle. Der Klassiker eines Momentes, der noch nie, weltweit und zu keiner Zeit, mit Würde vorübergegangen ist. Die Wahl zur Elternvertretung steht an. Auch diesmal sind alle Blicke zu Boden gerichtet. Keiner will das tun. Nobody. Die Lehrerin erklärt geduldig, dass das kaum Arbeit sei, es gehe ja nur um kleine organisatorische Dinge. Sie verwendet Vokabeln wie Kaffeekassa, Kuchenbuffet und kleine Aufmerksamkeiten für die Lese-Omi, die jede Woche gratis kommt. Danach Ruhe, ohne Sturm. "Ja, will denn wirklich niemand?", sagt die Lehrerin verzweifelt. "Wir kommen hier nicht raus ohne eine Entscheidung!" Schließlich melden sich dann doch drei Retterinnen, die dem emotionalen Druck nicht mehr standhalten. Und in die Pizzeria wollen. Sich aber dann sofort in ihrem Ehrgeiz zu überflügeln beginnen. Wir wählen diejenige, die uns verspricht, alles, absolut alles von uns fernzuhalten.

Nun hat es die Lehrerin eilig. Es ist 20 Uhr, der Elternabend ist beendet. Die Mutter mit dem Pride-Kind möchte gleich einen Termin für eine Sprechstunde ausmachen. Verabschiedung der Lehrerin. "Ich freue mich so!", ruft die Begleitlehrerin. Die Mutter mit der Freude an Strukturen ruft der Lehrerin nach, dass sie sich freuen würde, wenn ihr Kind auch einmal eine Hauptrolle in einem Schultheaterstück bekäme. Talent wäre da. "What happened?", fragt der Mann des syrischen Paares.

Zu Hause ist kein einziger der Zettel in meiner Tasche. (Heidi List, 1.9.2019)