"Für alle Menschen gilt in der sexuellen Entwicklung dasselbe: Eine gute körperliche und emotionale Wahrnehmungsfähigkeit, ein guter Zugang zur eigenen Erregungsfähigkeit sowie ausreichend soziale Kompetenzen ermöglichen es, sowohl die Sexualität mit sich allein als auch mit einer anderen Person positiv und respektvoll zu gestalten", sagt Bettina Weidinger.

Foto: Nadja Meister

Sexualität ist nicht etwas, das man mit 18 plötzlich "kann". Sie begleitet uns von Geburt an ein Leben lang und entwickelt sich fortlaufend weiter. Besonders die kindliche Sexualität ist in unserer Gesellschaft aber nach wie vor ein Tabuthema, kritisiert Bettina Weidinger vom Österreichischen Institut für Sexualpädagogik und Sexualtherapien in Wien anlässlich des Internationalen Tags der sexuellen Gesundheit am 4. September. "Viele Erwachsene haben Panik davor und leugnen deshalb, dass es sie gibt. Aber Kinder können nicht nur Emotionen wahrnehmen, sondern auch genitale Erregung. Das wird ignoriert", sagt die Expertin.

Der Erregungsreflex sei angeboren. Nur die Fähigkeit, ihn auszulösen, Erregung zu steigern und zu genießen, müsse im Lauf des Lebens erst gelernt werden. "Das Thema wird auch in der pädagogischen Entwicklungsbegleitung von Kindern nicht beachtet. Das führt dazu, dass es pathologisiert wird, wenn Kinder sich sexuell zeigen", so Weidinger. Sie fordert mehr Aufklärung, Offenheit und Bewegungsfreiheit für Kinder, um sich normal sexuell entwickeln zu können.

STANDARD: Was machen Erwachsene im Umgang mit kindlicher Sexualität falsch?

Weidinger: Kinder kriegen die Haltungen und Regeln ihrer Eltern mit, ohne dass sie ausgesprochen werden. Kinder, die in einem sehr sexual- und körperfeindlichen Haushalt aufwachsen, werden die Körperregion zwischen Knie und Bauchnabel schlicht und einfach ignorieren. Oder sie werden so streng kontrolliert, dass sie gar nicht anders können. Kinder wachsen heute viel reglementierter und mit weniger Freiräumen auf als früher. Alles wird interpretiert. Wenn ein Kind das Wort "ficken" sagt, gehen alle Erwachsenen in die Eskalation. Wenn es ein unsicheres Kind ist, holt es sich die Stabilität aber möglicherweise über diese Aufregung der Erwachsenen.

STANDARD: Was empfehlen Sie, um die sexuelle Entwicklung von Mädchen und Burschen zu fördern?

Weidinger: In der Entwicklung eines Menschen geht es immer darum, wie gut er ausgestattet wird. Das ist ja auch kognitiv so: Wenn ich nie ein Buch lesen darf, kann ich diese Fähigkeit auch nicht optimal entwickeln. Einerseits müsste die klassische Sexualpädagogik daran arbeiten, dass die Haltung der Erwachsenen sich verändert. Es geht nicht darum, Regeln aufzulösen oder Kindern die erwachsene Sexualität näherzubringen. Sondern darum, Rahmenbedingungen für eine Entwicklung zu schaffen, die körper- und sexualfreundlich sind und das Thema Sexualität normalisieren. Wenn es heute um Sexuelles geht, glauben aber viele Erwachsene, dass sie Kindern Erwachsenes "erklären" sollen. Wie in allen anderen Entwicklungsbereichen auch geht es aber bei der sexuellen Entwicklung darum, altersadäquate Angebote zu setzen.

STANDARD: Inwiefern spielt bei der sexuellen Entwicklung das Thema Bewegung eine Rolle?

Weidinger: Bei Kindern wird die freie Bewegung zwar gefördert, zum Beispiel im Vereinssport. Es stellt sich aber die Frage, ob es darüber hinaus ausreichend Möglichkeiten gibt. Denn das ist mit möglichen Risiken verbunden, und daher werden Kindern weniger Bewegungsräume zugestanden. Wenn ein neunjähriges Mädchen mit dem Becken schwingt, wird ihr von den Erwachsenen gleich ein sexuelles Verhalten unterstellt. Als erwachsene Frau hat sie dann womöglich Probleme, ihren Körper beim Sex lustvoll zu bewegen. Viele Frauen sagen zum Beispiel: Ich bewege mich beim Sex nicht, weil ich mich nicht schön genug fühle. Aber das ist nicht der Punkt, sondern sie haben mit auf den Weg bekommen, nicht über diese Bewegungsebene agieren zu dürfen. Wenn Kinder freie Bewegungsmöglichkeiten haben, dann können sie dadurch einen positiven Zugang zu ihrem Körper entwickeln und sich in ihrer Körperlichkeit besser wahrnehmen.

STANDARD: Wie sollen Erwachsene damit umgehen, wenn sich ein Kind "unten" angreift?

Weidinger: Kinder brauchen die Rückmeldung, dass das Berühren des eigenen Geschlechtsorgans grundsätzlich positiv und "erlaubt" ist. Dies wird direkt durch eine Bemerkung, aber auch indirekt durch das Verhalten der Bezugspersonen vermittelt. Zusätzlich brauchen Kinder aber auch eine klare Regelvermittlung, und diese sollte ohne Moralisierung passieren. In etwa so: "In unserer Gesellschaft ist es nicht üblich, nackt in der Öffentlichkeit zu sein oder im öffentlichen Bereich das Genital zu berühren." Es ist also wichtig, dass Kinder vermittelt bekommen: "Das, was du machst, ist absolut in Ordnung. Dafür gibt es passende Orte."

STANDARD: Dass sich heranwachsende Frauen und Männer in ihrer Sexualität anfangs unsicher fühlen, ist normal. Inwiefern wird das jedoch durch falsche oder fehlende Aufklärung zusätzlich gefördert?

Weidinger: Ein typisches Beispiel bei Mädchen: Jeder kennt den Satz "Das erste Mal tut weh". Und alle wissen, dass sich dieser Satz auf Frauen und heterosexuellen Geschlechtsverkehr bezieht, auch wenn diese Begriffe gar nicht erwähnt werden. Aber was ist das für eine Gesellschaft, die jungen Frauen sagt: Das mit dem Geschlechtsverkehr ist etwas Schönes, aber tut halt ein bisserl weh? Damit wird nicht die Botschaft transportiert: "Hol dir ausschließlich das, was du magst und was sich gut anfühlt", sondern "Du musst ein bisschen aufpassen und wirst ein wenig leiden müssen".

STANDARD: Das erste Mal tut häufig doch tatsächlich weh?

Weidinger: Nein, die Aussage ist falsch. Eine Frau hat beim heterosexuellen Geschlechtsverkehr immer dann Schmerzen, wenn das Geschlechtsorgan keine Erektion hat. Bei Männern ist die Erektion von außen sichtbar, bei Frauen nicht. Alle Männer wissen, dass manche Erektionen ohne Erregung sind und umgekehrt. Den meisten Frauen ist nicht einmal bewusst, dass sie eine Erektion haben können. Ihnen ist es zwar möglich, allein mit dem Erregungsgefühl zum Höhepunkt zu kommen, doch immer dann, wenn sie mit der Vagina etwas aufnehmen möchten, braucht es eine Erektion. Erektion bedeutet: Die Vagina wird feucht und verlängert sich, die Muskulatur wird aktiv, besser durchblutet und kann jemanden oder etwas aufnehmen.

STANDARD: Was würde sich ändern, wären Mädchen und Burschen dahingehend aufgeklärter?

Weidinger: Solche Dinge sind eigentlich Basisaufklärung und müssen künftig besprochen werden. In einer sexualfreundlichen Gesellschaft wäre das normal. Mädchen wüssten dann, dass Erregung und Erektion nicht immer gleichzeitig auftreten. In einer Situation, in der sich eine junge Frau sehr erregt fühlt, aber keine Erektion hat, würde sie sagen: "Vaginaler Sex geht jetzt gerade nicht, aber wir können etwas anderes machen." Sie würde sich ihre eigene Sexualität gestalten. Hat sie diese Information nicht, hält sie es für richtig, dass der Sex in diesem Moment wehtut.

STANDARD: Was ist mit den Burschen? Was sollte ihnen mit auf den Weg gegeben werden?

Weidinger: Für alle Menschen gilt in der sexuellen Entwicklung dasselbe: Eine gute körperliche und emotionale Wahrnehmungsfähigkeit, ein guter Zugang zur eigenen Erregungsfähigkeit sowie ausreichend soziale Kompetenzen ermöglichen es, sowohl die Sexualität mit sich allein als auch mit einer anderen Person positiv und respektvoll zu gestalten. In einer immer noch tendenziell patriarchal orientierten Gesellschaft beziehen sich viele Mythen um die Sexualität auch auf patriarchale Irrtümer. Diese Mythen müssen respektvoll und differenziert aufgelöst werden. Burschen und junge Männer sind nicht dafür verantwortlich, dass das Thema der geschlechtsspezifischen Diskriminierung immer noch präsent ist. Sie haben daher, so wie alle Kinder und Jugendlichen, ein Recht auf eine respektvolle Erklärung sexueller Fragestellungen ohne einengende Vorannahmen. (Maria Kapeller, 4.9.2019)