Hoppala, was ist denn hier passiert? Hoch oben unter dem gotischen Kirchengewölbe schwebt ein Kugelfisch. An einem Pfeiler hängt ein kugelrunder Soldat, bis auf den Helm splitternackt, und fordert den Totenkopf über ihm zum Duell heraus. Und beim Standbild eines Heiligen hat ein Dämon mit Messer im Kopf seine Angel ausgeworfen.

In der Brüsseler Kapellenkirche Notre-Dame de la Chapelle tauchen derzeit Figuren aus dem Universum von Bruegel an unerwarteten Orten auf.
Foto: Visit Brussels / Bowling

Wer derzeit die Brüsseler Kapellenkirche betritt, die Église Notre-Dame de la Chapelle, reibt sich verwundert die Augen: Im altehrwürdigen Kirchenschiff treiben bunte, bizarre Fabelwesen ihr Unwesen. Sie stammen aus Bruegel-Bildern und scheinen ausgebrochen zu sein. La grande évasion heißt diese Schau, der große Ausbruch. Es ist eine von vielen Sonderausstellungen und Aktionen, mit denen Belgien dieses Jahr an den 450. Todestag von Pieter Bruegel dem Älteren erinnert. Die Kapellenkirche darf dabei nicht fehlen: Hier hat Bruegel 1563 geheiratet, und hier wurde er 1569 auch begraben: "In der Rosenkranzkapelle hängt eine Gedenktafel", erklärt Kirchenwächter Roberto Lombardi, der wie immer in seinem Holzhäuschen in der Kirche sitzt und Besuchern den Weg weist: "Hier gleich links!"

Street Art mit Motiven, die von Bruegel inspiriert sind, zieren aktuell Brüsseler Hauswände. Im Hintergrund gibt es ein Bild aus der Welt des Comichelden Tintin zu sehen.
Foto: Visit Brussels / Jean-Paul Remy

Der unumstrittene Programmhöhepunkt des Gedenkjahres hat mit der Jahrhundertschau in Wien zwar bereits stattgefunden. Das mussten die Brüsseler zähneknirschend in Kauf nehmen. Doch sie haben aus der Not eine Tugend gemacht: Denn eintauchen in die Welt des großen Renaissancemalers – das kann man nur in Brüssel und Umgebung, wo er gelebt und gewirkt hat. Und deshalb "bruegelt" es dort, wie die Brüsseler es selbst auf den Punkt bringen, das ganze Jahr über gewaltig. Immerhin gehört dieser alte Meister zu Belgien wie Jacques Brel, Magritte und die Comicfigur Tintin.

Aussicht auf altes Bier

Geschäfte, Museen, Lokale – alle versuchen, von Bruegel zu profitieren. Restaurants haben Listen mit Zutaten aus dem 16. Jahrhundert bekommen, für spezielle Bruegel-Menüs. Dazu wird Lambic getrunken, ein Bier, das schon zu Bruegels Zeiten gebraut wurde. Wer auf den Hallepoort klettert, einen mittelalterlichen Verteidigungsturm, kann sehen, wie Brüssel vor 450 Jahren von oben aussah – Virtual-Reality -Fernrohre machen’s möglich. Bruegel-Spaziergänge und -Radtouren laden überdies zu Streifzügen auf den Spuren von Bruegel ein.

Lambic, Bier, wie es zu Zeiten von Bruegel getrunken wurde, wird nun wieder ausgeschenkt.

Über das Leben des "Leonardos des Nordens" ist nur wenig bekannt. 1563 ist er von Antwerpen nach Brüssel umgezogen – in das politische und kulturelle Zentrum der spanischen Niederlande. Hoch oben auf dem heutigen Kunstberg hat sich Kaiser Karl V. den größten Palast Europas bauen lassen. Bruegel wohnte standesgemäß in der Hoogstraat in einem typisch flämischen Backsteinhaus mit Treppengiebel. Als "Bauernbruegel" ist er in die Geschichte eingegangen. Aber er war ein Stadtmensch – "ein Humanist, der die Welt mit kritischen Augen betrachtete", sagt Rosemarie Albrecht von den Königlichen Museen der Schönen Künste. Das kann mit der zweitgrößten Bruegel-Kollektion der Welt aufwarten, vor allem Radierungen und Zeichnungen, aber nur vier Gemälde. Recht armselig, verglichen mit der größten Sammlung in Wien.

Die mulitmediale Interaktion mit den Werken Bruegels wird in Brüssel groß geschrieben.
Foto: KMSKB / Piet De Kersgieter

Doch anno 2019, in Zeiten multimedialer Bildtechnik, lässt sich die Kunst Bruegels auch ganz anders erfahren. So wie im Dynastiepalast, auf halbem Weg zur Unterstadt: Hier werden die Ausstellungswände zu monumentalen Projektionsflächen, auf denen winzige Details aus Bruegels Werken meterhoch emporwachsen. Und obendrein anfangen, sich zu bewegen – ein wahres Spektakel, untermalt von dramatischer Musik: Unter den Füßen der Besucher schlängeln sich auf einmal Aale und Fische. An den Wänden ringsherum beginnen Bauern zu tanzen, Heukarren kommen in Bewegung. Ein Soldat säbelt einen anderen nieder, Kugelfische reißen ihr Maul auf. Zwei Männer rollen auf einem Fass hin und her, ein Schwein wird geschlachtet.

Ein paar Hundert Meter weiter rührt Dirk Myny in einem riesigen Kochtopf. Der 53-Jährige ist Chef des Traditionslokals Les Brigittines. Dort gibt es in diesem Jahr auch Schweinsbackerln à la Bruegel, mit Lauch, Zwiebeln, Karotten, Safran, Wacholder beeren. Und mit Brot statt Erdäpfeln: "Denn die gab es damals noch nicht in Europa", stellt Myny klar.

Neue Meister an der alten Mühle

Bier hingegen schon. Genauer gesagt Lambic, eine uralte belgische Bierspezialität, die nur dann so heißen darf, wenn sie in der Gegend um Brüssel gebraut wurde. Zum Beispiel im Pajottenland, auch flämische Toskana genannt, einer idyllischen Landschaft mit sanft geschwungenen Hügeln, die direkt an Brüssel grenzt. Hier streifte Bruegel als Bauer jeden Sonntag durch Wiesen und Felder, auf der Suche nach Motiven. Und hier, mitten in der Landschaft, stehen dieses Jahr die Arbeiten von zeitgenössischen Künstlern, die sich von dem alten Meister inspirieren ließen. Auf einer Kunstwanderung können sie entdeckt werden. Start oder Ziel: die alte Wassermühle von Sint Gertrudis Pede, die Bruegel auf seinem Werk Die Elster auf dem Galgen verewigt hat und die sich noch heute dreht.

Mühlen spielen im Werk Bruegels eine gewisse Rolle. Es darf darüber spekuliert werden, welche Exemplare im Pajottenland er verewigt hat.

Gleich gegenüber, am anderen Flussufer, liegt die Brauerei von Francis Kestermond. Dort wird schon seit Jahrhunderten Lambic gebraut. "Het zesde seizoen" heißt sie, "die sechste Jahreszeit", benannt nach dem Hauptwerk von Bruegel, dem sechsteiligen Jahreszeitenzyklus. "Lambic schmeckt ganz besonders, ein bisschen wie Most", erklärt Kestermond. Was an der spontanen Gärung dieses Biers liege: "Wir überlassen es nach dem Ansetzen der Maische einfach sich selbst. Für die Gärung sorgt wilde Hefe aus der Luft."

Auch bei Brauer Kestermond bruegelt es in diesem Jahr. Im Hauptgebäude hat der 63-Jährige eine rustikale Gastwirtschaft eröffnet, in der man sich vorkommt wie mitten in einem Gemälde von Bruegel: An langen Holztischen sitzt eine bunte Gesellschaft bei einer Bauernmahlzeit mit viel Wurst, Käse, Brot – und noch mehr Lambic. Es schmeckt tatsächlich ein bisschen wie Most – oder mehr noch nach Sturm. Ist das nun Bier oder Wein? Egal, es schmeckt. (Kerstin Schweighöfer, 1.9.2019)