Das Demokratiedefizit ist wieder zurück in der britischen Politikdebatte – doch die Vorzeichen sind nun gänzlich andere. Hatte der Vorwurf jahrelang als rhetorische Munition der Brexiteers gegen den angeblichen Brüsseler Zentralismus herhalten müssen, sind es nun Brexit-Hardliner Boris Johnson und die von ihm geführte britische Regierung, die selbst ins Fadenkreuz geraten. Einen Tag nachdem Premier Boris Johnson mithilfe der Queen dem britischen Parlament eine Zwangspause auferlegt hatte, um so einen No-Deal-Brexit leichter durchsetzen zu können, folgten wütende Proteste aus zahlreichen politischen Schichten im Vereinigten Königreich.

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Spontane Proteste gegen die Entscheidung zur parlamentarischen Zwangspause am Mittwochabend.
Foto: AP / Jane Barlow

Auch Mitglieder aus der eigenen Tory-Partei sind es diesmal, die der Entscheidung ihres Premiers öffentlich entgegentreten. Dabei ist nicht nur die Chefin der schottischen Konservativen Ruth Davidson, die ihren Rücktritt erklärte. Laut Medien laufen bereits seit Mittwochabend auch Gespräche zwischen Parlamentarierinnen und Parlamentariern der Opposition und solchen aus Johnsons Tory-Partei. Sie verfolgen nach Informationen des "Guardian" das Ziel, trotz verkürzter Zeit im Parlament Johnson via Gesetzgebung an einem Brexit ohne Deal zu hindern – oder ihn notfalls durch einen Misstrauensantrag abzuwählen.

Der Vorwurf

Das alles wird aber dadurch verkompliziert, dass der von Johnson gewählte Vorgang an sich dem normalen Prozedere entspricht: Eine Parlamentsperiode dauert in der Regel rund ein Jahr, sie wird von der folgenden durch die Phase der "prorogation" getrennt, in der Mandatarinnen und Mandatare nicht zusammentreten. Diese endet durch eine Rede der Queen, die das Regierungsprogramm vorträgt und so die neue Gesetzgebungsperiode eröffnet.

  • Damit argumentiert nun auch Johnson: Die aktuelle Sitzungszeit dauert bereits seit Sommer 2017 an und ist damit die längste seit mehr als 400 Jahren. Zudem steht es britischen Regierungen gewöhnlich zu, ihr eigenes Programm zu formulieren und anschließend mit einem frisch zusammengetretenen Parlament die Arbeit aufzunehmen. Johnson begründet die Maßnahme mit innenpolitischen Prioritäten: der Stärkung des Gesundheitssystems NHS und dem Kampf gegen Gewaltverbrechen. Auch wurde das Instrument der "prorogation" schon mindestens zwei Mal in der jüngeren Geschichte, 1948 und 1997, von Regierungen mit dem Ziel genutzt, bestimmte Debatten im Unterhaus zu verhindern.
  • Allerdings, so behaupten die Gegner der Entscheidung, sei Großbritannien nun eben auch in einer speziellen Situation: Ziel sei diesmal nicht einfach "nur" die Anwendung einer Taktik, sondern die Ausschaltung des Parlaments in der entscheidenden Zukunftsfrage. Zudem ist die Pause mit 23 Tagen diesmal deutlich länger als in früheren Gesetzgebungsperioden: 2014 betrug die Zeit 13 Tage, 2016 waren es sogar nur vier.

Was nun passiert

Deshalb wollen die Brexit-Gegner Maßnahmen ergreifen.

  • So haben mehrere Briten Klagen eingereicht. Deren Chancen werden als gering erachtet, am ehesten könnte die Argumentation der Geschäftsfrau Gina Miller von Erfolg gekrönt sein, Johnson wolle die Souveränität des Parlaments beschneiden.

  • Im Raum steht außerdem ein Misstrauensvotum gegen Johnson. Dieses wäre sowohl in den wenigen Sitzungstagen von 3. September bis zum Beginn der "prorogation" am 9. September möglich als auch nach dem Ende der Parlamentspause am 14. Oktober. Allerdings müssten sich die Parlamentarierinnen und Parlamentarier einigen, wer Johnson nachfolgen und dann einen No-Deal-Brexit verhindern sollte. Das scheint bisher schwierig. Dies auch, weil Labour-Chef Jeremy Corbyn nicht als mehrheitsfähig gilt, seine Partei aber niemand anderen wählen will. Außerdem hat Johnsons Team vorgesorgt. Laut der Plattform Buzzfeed prüft sein Team, ob es überhaupt illegal wäre, würde der Premier nach verlorenem Misstrauensvotum nicht zurücktreten, sondern bis nach einem allfälligen ungeordneten Brexit interimistisch im Amt bleiben. Dies sei Teil eines Maßnahmenpakets: So spiele man auch mit der Idee, neue Feiertage im Herbst einzuführen, um so weitere Parlamentssitzungen zu stoppen. (Manuel Escher, 29.8.2019)