Das Ende einer Epoche sehen manche Pariser gekommen: Die "Gagarin-Siedlung" als eine der bekanntesten Plattenbausiedlungen vor den Toren der Stadt steht vor dem Abriss. Die monströse Anlage wurde 1963 von dem russischen Kosmonauten Juri Gagarin höchstpersönlich eingeweiht.

Ihr Abriss ab Samstag und der geplante Bau eines "Ökoviertels" verstärken bei vielen Parisern die Furcht vor explodierenden Mieten und Lebenshaltungskosten. Diese sind im Zuge des Umbaus der Hauptstadt bis zur Olympiade 2024 schon jetzt spürbar.

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Nach dem Vorbild von Sowjet-Wohnblocks gebaut, verkörperte die Gagarin-Siedlung in der kommunistisch regierten Vorstadt Ivry-sur-Seine im Südosten von Paris lange die Zukunft. Zuletzt stand die 13-stöckige Anlage mit 400 Wohnungen leer und verfiel. Einziger Schmuck ist ein riesiges Fassaden-Plakat. Es zeigt das bekannte Rapper-Duo PNL, das die verlassene Siedlung im Frühjahr in einem millionenfach aufgerufenen Videoclip verewigte.

Die Entscheidung für den Abriss sei sehr schwer gefallen, erzählt Vize-Bürgermeister Romain Marchand von der Kommunistischen Partei. Er und der Bürgermeister, ein Gewerkschafter, hätten sich "eng mit der Bevölkerung abgestimmt". Beschlossen wurde, die Siedlung nicht zu sprengen, sondern innerhalb von 16 Monaten abzubauen.

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Mit einem Bürgerfest nehmen frühere Bewohner und die Kommunalverantwortlichen am Wochenende Abschied von der Anlage, die das Leben vieler Menschen im "roten Ivry" geprägt hat. "Die Gagarin-Siedlung war das internationale Aushängeschild der Kommunistischen Partei Frankreichs", sagt der Banlieue-Forscher Emmanuel Bellanger.

Heute kämpfen viele Vorstädte mit Kriminalität, Arbeitslosigkeit und Islamismus. Nach dem Zweiten Weltkrieg aber waren dort Modellsiedlungen entstanden. Viele gingen auf das Konto der Kommunisten, die in einem "roten Gürtel" in Rathäusern rund um Paris saßen. Es war die Zeit, als der Philosoph Jean-Paul Sartre und andere linke Intellektuelle dem Marxismus das Wort redeten.

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Willkommen Juri Gagarin" stand auf großen Bannern, die die kommunistischen Stadtverantwortlichen 1963 für den "ersten Mann im All" ausrollten. Mit großem Pomp und von jubelnden Menschen wurde der Kosmonaut zur Einweihung "seiner" Siedlung empfangen.

Begeistert waren auch die ersten Bewohner: "Ein Badezimmer, eine große Küche, ein Aufzug – dieser Komfort war für uns ganz neu", erzählt Jacqueline Spiro, die mit ihren Eltern in den 60er-Jahren in den Neubau einzog. "Jeder kannte jeden, es war wie eine große Familie", schwärmt Françoise, eine andere Bewohnerin der ersten Stunde. Der Abriss bedeutet für sie "das Ende einer Welt".

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Schon mit der Ölkrise der 1970er platzte der Traum: Deindustrialisierung und Arbeitslosigkeit folgten, die Arbeiter-Vorstadt Ivry stürzte in die Krise. Es gebe immer noch "ein echtes Problem mit der Attraktivität" der Vorstadt, räumt auch der stellvertretende Bürgermeister Marchand ein.

Ändern soll dies das geplante "Ökoviertel" – eine Ansammlung moderner Bauten mit Balkonen und Holzverkleidung rund um kleine Grünflächen. Bauträger ist eine öffentliche Gesellschaft, die den Ausbau der Hauptstadt zum "Grand Paris", zum Groß-Paris vorantreibt. Der Plan: Bis zu den Olympischen Sommerspielen 2024 sollen moderne Siedlungen und Büros sowie neue Metro- und Straßenbahnverbindungen entstehen und der Metropole ein neues Gesicht geben.

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Werden weniger Begüterte dann endgültig aus der Stadt verdrängt, die mit Hongkong und Singapur bereits jetzt zu den teuersten der Welt gehört? Die Stadtväter von Ivry wollen dies verhindern, wie Vize-Bürgermeister Marchand sagt: "Das neue Ökoviertel wird 30 Prozent Sozialwohnungen haben", verspricht er. (APA, 31.8.2019)

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