Schwere schwarze Wolken hängen wie aufgepumpte Daunenkissen am Himmel. Dann beginnt es zu regnen. Erst tröpfelt es, dann schüttet es. Ich spüre das Dröhnen der Lkws, an denen wir vorbeiziehen. Polnische, ukrainische Kennzeichen, russische, litauische, belarussische. Deutsche sind nur selten zu sehen.

Wasser spritzt auf, schießt gegen das Visier meines Helms. Durch die Wasserschlieren wirkt die Welt verzerrt und verwaschen. Nur ab und zu sehe ich den Weg deutlich vor mir. Der Wolkenbruch erwischt uns, als wir an Poznan vorbeirauschen, der Stadt, in der mein Großvater im Jahr 1904 geboren wurde. Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs gehörte die Stadt zum Deutschen Reich. Preußen hatte sie sich einverleibt, nachdem der polnisch-litauische Staat aus imperialistischen Gelüsten zerpflückt worden war. Der Wolkenbruch ist ein dramatisches Schauspiel – und vielleicht der eigentliche Beginn einer Reise.

Foto: Ingo Petz

Zusammen mit meiner Frau Alesja lebe ich in Berlin. Sie stammt aus Belarus, ich aus dem Westen Deutschlands. Mit dem Motorrad fahren wir von Westen nach Osten, nicht geradewegs, sondern wie es uns gefällt, bis nach Staubcy, einer Kleinstadt im Südwesten der belarussischen Hauptstadt Minsk. Übersetzt heißt der Name so viel wie "Die Flößer", weil der Fluss, an dem die Stadt Anfang des 16. Jahrhunderts errichtet wurde, als Transportweg genutzt wurde. Der Fluss heißt auf Belarussisch Njoman. Im Deutschen nennt man ihn: Memel. Dort wuchs meine Frau auf. Dort wohnen ihre Eltern.

Wer mit dem Zug von Berlin nach Moskau fährt, überquert den Njoman. Über eine Brücke, die wie im Kalten Krieg auch heute noch von Soldaten bewacht wird. Seit 1994 bin ich unzählige Male in Belarus gewesen. Durch Belarus habe ich auch Polen besser kennengelernt. Viele meiner belarussischen Freunde haben zeitweise dort gelebt, studiert oder gearbeitet. Um Geld zu verdienen, um eine Perspektive zu haben, um in einem freieren Land zu leben. Belarus teilt eine lange Geschichte mit seinem Nachbarn.

Foto: Ingo Petz

Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts gehörte der belarussische Kulturraum zum polnisch-litauischen Doppelstaat. Mit der Entstehung der Zweiten Polnischen Republik nach dem Ersten Weltkrieg wurde zumindest der Westen von Belarus wieder polnisch. 1939 verleibten sich Nazis und Sowjets den Nachbarn ein. Es folgten Krieg, Terror, Genozid, Vertreibung. Mein Großvater war an der Ostfront, ein Großvater meiner Frau kämpfte in der Roten Armee.

Dass wir zusammen sein können, haben wir letztlich der Wende von 1989 zu verdanken. Deswegen hat der Name Autobahn der Freiheit bzw. Autostrada Wolnosci, wie die Straße zwischen Berlin und Warschau heißt – und die weiter nach Minsk und Moskau führt -, für uns keinen pathetischen Nachhall. Gerade in Zeiten, in denen lauthals nach neuen Grenzen gerufen wird, Abschottung und Abgrenzung propagiert werden und Geschichtsklitterung und Geschichtsvergessenheit wieder en vogue sind, kann es keine schlechte Idee sein, solch eine Reise zu unternehmen. Und mit dem Motorrad entlang der europäischen Geschichte zu gleiten.

Zwei polnische Feen

Bei Gniezno knallt die Sonne wieder unerbittlich. Beim Tanken bricht der Zündschlüssel entzwei. Wahrscheinlich kein Wunder, dass dies ausgerechnet in einer Stadt passiert, die in wundersamen Mythen mit der Entstehung des polnischen Staates in Verbindung gebracht wird. Jedenfalls erscheinen uns "zwei polnische Feen", wie meine Frau die beiden Männer vom Abschleppdienst ironisch nennt. "Wir machen euch einen neuen Schlüssel", sagt der eine, ein kleiner und drahtiger Mann mit schnellen Worten.

Meine Frau spricht mit ihnen, in einer Mischung aus Radebrech-Polnisch und Belarussisch. Man versteht sich. "In der Adam-Mickiewicz-Straße haben wir einen tollen Schlüsselmacher, der kann so was." Der Schlaksige schaut meine Frau an: "Kennt Ihr Adam Mickiewicz?" "Klar. Und wusstest du, dass der bei Navharudak geboren wurde? Das liegt in Belarus, meiner Heimat." Der Schlaksige lächelt müde. In der Mickiewicz-Straße, die es wie die Goethe-Straße in Deutschland fast in jeder polnischen Siedlung geben dürfte, wird uns also ein neuer Schlüssel geschliffen, der uns die Weiterfahrt rettet. Zum Abschied: eine Umarmung, ein Foto.

Foto: Ingo Petz

Weiter geht es. An den Straßen stehen ältere Frauen und verkaufen Pilze, Honig und Marmelade, junge Frauen verkaufen ihren Körper. In Masuren geht es vorbei an den Seen, die mit ihren tiefdunklen Augen gen Himmel starren, im Schutz von alten Baumalleen und vorbei an alten Gutshöfen, die herausgeputzt auf die Urlauber aus Warschau warten. In den Dörfern riecht es wie in alter Zeit: nach brennendem Reisig, nach schwülem Dung, nach frischem Heu. Gerade in der Abendsonne durchströmt ein weiches, sanftes Licht diese Welt; und man glaubt zu verstehen, warum viele mit Nostalgie und Poesie an Masuren denken.

Eine Landschaft, die von der Geschichte hin und her gerissen wurde, wie auch andere Räume in diesen europäischen Übergangszonen, wo sich über Jahrhunderte verschiedene Kulturen vermengten. "Mein Land der Kindheit setze ich mühsam aus den Krümeln einer zerbrochenen Welt zusammen", sagte der masurische Schriftsteller Erwin Kruk über sein Dasein in einer untergegangenen Welt.

Foto: Ingo Petz

Den Störchen scheint es gutzugehen in diesem Jahr, viele haben zwei Junge in ihrem Nest, die darauf warten, endlich das Fliegen zu lernen. Wahrscheinlich sind nur sie es, die wissen, dass das doch eigentlich ein zusammenhängender Raum ist, in dem sie den afrikanischen Winter überdauern. Tatsächlich gleicht die Landschaft Brandenburgs Belarus. Weite Felder, dichte Wälder, kühle Seen; manchmal hügelig, dann wieder ganz flach entrollt sich das Land. In einem alten Bauernhof, der am Rande eines winzigen Dorfes steht, werden wir spät am Abend von einem jungen polnischen Paar auf ein paar Würstchen eingeladen.

Die beiden kommen aus Warschau, stammen aus Lublin. Sie war Lehrerin, arbeitet nun in einem Unternehmen. "Ich war gerne Lehrerin", sagt sie. "Aber die Lehrer bei uns werden schlecht bezahlt." Am nächsten Morgen verabschieden uns die Hausherren, ein junges Paar, das aus Stettin hierhin, in die wildromantische Natur geflohen ist. "Dorf der Läufer" nennen sie ihr Anwesen. Beide sind passionierte Läufer, die viele Sportler aus anderen Ländern zu Gast haben. Und so wird Masuren wieder zu einer Kreuzung, an der sich andere Kulturen treffen und neue Geschichten entstehen.

Straße ins Nirgendwo

Endlos scheint die Straße durch den Kiefer- und Fichtenwald, immer geradeaus, ein Stück Himmel wie ein Fleck am Horizont. In Richtung Grenze gehen die Straßen ins Nirgendwo, die Natur hat weitgehend das Sagen. Intuitiv spürt der Mensch das Unbehagen, das von Grenzen ausgeht, die trennen, spalten, entzweien und zerreißen und an denen über Jahrhunderte erbittert gekämpft und blutig gestorben wurde. Obwohl ich die Grenzkontrollen noch als Kind erlebt habe, als wir mit dem Auto in die Niederlande oder nach Belgien gefahren sind, um Kaffee zu kaufen oder zu tanken, und immer wieder als Journalist und Reisender, der in den postsowjetischen Raum gereist ist, löst das Nahen der Grenze auch diesmal ein nervöses Bauchgrimmen aus.

Foto: Ingo Petz

Am Grenzübergang bei Kuznica warten bereits dutzende Autos und Kleintransporter, die nach Belarus wollen. Die meisten mit belarussischem Kennzeichen, einige mit polnischem und vereinzelt mit russischem. Die Prozedur ist für diejenigen, die damit nicht vertraut sind, undurchsichtig. Zunächst werden die Pässe kontrolliert und die Visa. Dann fährt man vor zum belarussischen Zoll und lässt sein Fahrzeug registrieren und sein Gepäck durchsuchen. Wer hier kein Belarussisch oder Russisch spricht, ist aufgeschmissen. Erst dann geht der Schlagbaum auf, und man fährt bis zum nächsten Schlagbaum und reicht dem Grenzer eine Quittung, auf der die Passkontrolle und der Zoll ihre Vermerke gemacht haben. Erst dann ist man in Belarus. Nach rund drei Stunden. Andere warten länger, Lkws manchmal tagelang. Die Wartenden nehmen es mit Gelassenheit und Humor.

Schwimmen im Njoman

Vorbei an Hrodna, einer Stadt, die bereits im Jahr 1444 das Magdeburger Stadtrecht erhielt. Vorbei an Birkenwäldern, goldenen Feldern, saftigen Wiesen, an den historischen Städtchen Navahrudak und Mir und an den Dörfern mit ihren bunt blühenden Vorgärten und grün oder blau gestrichenen Holzhäusern, fahren wir Richtung Staubcy. Dort haben Alesjas Eltern den Tisch bereits festlich gedeckt. Mit frischen Tomaten und Gurken aus dem eigenen Garten, gebratenem Hecht aus dem Njoman, gesalzenem Speck und Kartoffeln. Bulbaschy nennt man die Belarussen etwas abfällig: Kartoffelmenschen.

Viele Speisen beruhen auf der zähen Erdknolle. Das Essen ist deftig und zahlreich. Dazu gibt es Harelka, Wodka und sentimentale Trinksprüche. "Darauf, dass wir aufeinander achten und dass das nächste Treffen nicht so lange auf sich warten möge." Das Pathos wirkt wie eine Schutzschicht, die sich die Belarussen in all den Jahrhunderten der Kriege und Katastrophen, die das Land erleiden musste, zugelegt haben. Ich erinnere mich noch, wie ich bei Alesjas Eltern mit ähnlich schwülstigen Worten um ihre Hand angehalten habe. "Aber muss es ein Deutscher sein", rutschte es meiner Schwiegermutter heraus. Sie lächelte verlegen. Wir schauten uns an und lachten.

In den nächsten Tagen schwimmen wir im Njoman, schauen in den belarussischen Himmel und essen, essen und essen. Die Hütte, in der Alesja und ich geheiratet haben, liegt direkt am Njoman, an der Memel. Auf dem Grundstück wurde Alesjas Vater Mikola geboren, der mir vor Jahren dort einen Apfelbaum gepflanzt hat. Er trägt in diesem Jahr viele Früchte. Mein Großvater, der in Poznan geboren wurde, der an der Ostfront und in sowjetischer Kriegsgefangenschaft war, lebte in einer Straße, die vor dem Krieg Memeler Straße hieß.

Wir besuchen die Stadt Dzarzhynsk mit ihren hohen Wohnsilos, die nach dem Gründer der mordrünstigen Tscheka Felix Dzerzhinsky benannt wurde, und das Landgut, wo Adam Mickiewicz als Sohn von Landadligen geboren wurde. "Die Polen sagen: Er ist unser Dichter. Wie auch die Belarussen und die Litauer", erklärt der Museumsdirektor. "Sogar die Franzosen wollen ihn für einen Franzosen halten. Aber ich sage: Das ist nicht wichtig. Wichtig ist seine Poesie, die die Menschen aus aller Welt zu diesem Ort hier führt."

Am Ende unseres Aufenthalts wird wieder gegessen und getrunken. Wir lachen und weinen. Die Tränen meiner Frau fließen noch, als die Fabrikschlote von Baranowitschy in Sichtweite kommen. Hinter der Grenze sehen wir zwei junge Störche, die sich wild flatternd in den Himmel erheben. Motorradfahrer grüßen uns. Wir grüßen zurück mit ausgestreckter Hand. Es ist nur ein symbolischer Gruß. Aber er zeigt eine Verbundenheit, ein Handreichen, das auch wir in Europa wieder mehr einüben sollten. Geradeaus, immer geradeaus geht es nach Westen. Auf einer Straße, die fast bis vor unser Haus reicht und in unser Leben. (Ingo Petz, ALBUM, 31.8.2019)