Der Wiener Nordwestbahnhof hat viel zu erzählen. Schiffskapitän und Weihnachtsmann warten schon mit fahrbaren Tribünen auf ihr Publikum.

Foto: Margarete Affenzeller

Wien hat so viele Bahnhöfe, dass man die Übersicht verlieren könnte. War der neue Hauptbahnhof in den letzten Jahren Dauerthema und auch der – während dessen Bauphase – überstrapazierte Meidlinger Bahnhof sowie der schöne, nunmehr abgewertete Westbahnhof oder der als Flughafenanbindung nicht zu überbietende Bahnhof Wien-Mitte, so schlafen andere Bahnhofsareale einen Dornröschenschlaf, wie man sagt. Zumindest hat man vom Franz-Josefs-Bahnhof schon länger nichts mehr gehört.

Andere innerstädtische Großstationen verleben in den Jahren ihres Rück- und Umbaus geduldig eine Zwischennutzungsphase. Das Gelände des ehemaligen Nordbahnhofes ist dafür ein gutes Beispiel. Das Areal im zweiten Bezirk ist eine der größten innerstädtischen Entwicklungszonen Wiens. Bis 2025 sollen dort, laut Stadt Wien, rund 20.000 neue Bewohnerinnen und Bewohner leben.

Ähnlich, aber viel verschlafener, steht es um den Nordwestbahnhof. Dieser wenig bekannte, auf 44 Hektar langgezogene, ehemalige Kopfbahnhof, zuletzt als Frachtplatz in Betrieb, ist seit 2017 im Zwischennutzungsmodus. Auch dort sollen 2025 tausende Wiener wohnen. Bevor es aber "Baba, Nordwestbahnhof!" heißt, gilt es, solche verschwindenden Orte und ihre Geschichte zu verstehen, den Wandel zu begreifen. Damit befasst sich die Forschungsplattform Tracing Spaces von Michael Hieslmair und Michael Zinganel. Mit der Gruppe Theater im Bahnhof (TiB) haben sie nun das Stationentheater Nordwestpassage entwickelt.

Käpt'n Iglo schmettert

Mitten im hüfthohen Unkraut der rostigen Geleise erzählen Menschen über ihre Beziehung zum Nordwestbahnhof. Eine Frau mit blitzblauer Federboa erinnert sich an ihre nächtlichen Verschublärmträume. Ein anderer, er sieht aus wie Käpt'n Iglo, schmettert seine Weite-Welt-Träume von einer Eisenbahnbrücke zur nächsten, als gäbe es den darunter fließenden Verkehr gar nicht.

"Betrachten Sie die Schönheit der Logistik", tönt es durch das Megafon, mit dem das Wandertheaterpublikum durch das Gelände gelotst wird. "Setzen Sie sich jetzt nieder." Man bewundert Rolltore, Betonsockel, zugewachsene Schienen, Mobilzäune oder das "Naturphänomen Taubenkobel". Dazwischen gibt es zur Stärkung einen Rollmops frei Haus. Irgendwo hier lagert angeblich die umstrittene Weihnachtsdekoration aus der Rotenturmstraße, aber nicht weitersagen.

Einmal kurvt man als Sitzfracht auf einem Lkw durch die Lastenstraße, auf dem Dach eines Gebäudes seufzt zuvor noch ein Duo melancholisch (Saxofon, Gesang). Die Geschichten werden immer elender. Am Ende muss sogar eine alte Regenrinne noch als Lebenszeichen einer versinkenden Welt herhalten. Und der eigene Voyeurismus wird auf die Probe gestellt. Darf man wissbegierig beim Sterben zusehen? Noch mehr über den Nordwestbahnhof versammelt eine Ausstellung vor Ort ab 5. 10. Etwa dass die Bahnhofshalle vor hundert Jahren eine Indoor-Skipiste hatte. (Margarete Affenzeller, 31.8.2019)