In der U3-Station Westbahnhof ereignete sich am 8. Mai die folgenschwere Attacke.

Foto: Robert Newald

Wien – Dass Zdravko I. am 8. Mai in der U-Bahn-Station Westbahnhof seinen rechten Fuß verlor, nachdem ihn Mohammed Y. vor einen einfahrenden Zug gestoßen hatte, hätte möglicherweise verhindert werden können – denn wie sich beim Prozess um die Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher zeigt, war der 20-jährige Y. aus einer psychiatrischen Klinik entwichen, wo er eigentlich nach dem Unterbringungsgesetz hätte sein müssen.

Im August 2015 kam der Iraker nach Österreich, wo ihm Asyl gewährt wurde, er Deutschkurse besuchte und begann, den Hauptschulabschluss nachzuholen, erzählt Y. dem Geschworenengericht unter Vorsitz von Andreas Hautz. Der Bildungsfortschritt war durchaus gegeben, den Dolmetscher benötigt der Betroffene nur für juristische Fachausdrücke.

Gegenstände auf Straße geworfen

Die Situation änderte sich im vergangenen November, wie die psychiatrische Sachverständige Gabriele Wörgötter in ihrem Gutachten ausführt. Der Geisteszustand von Y. verschlechterte sich, er fühlte sich verfolgt – vor allem von Menschen mit Sonnenbrillen und mit Kopfhörern. Als er aus der elterlichen Wohnung Gegenstände aus dem Fenster warf und Autos beschädigte, wurde er von der Polizei ins Otto-Wagner-Spital, ein psychiatrisches Krankenhaus, gebracht und dort nach dem Unterbringungsgesetz wegen unmittelbarer Fremd- oder Selbstgefährdung zwangsweise aufgenommen.

Das zuständige Bezirksgericht hob die Zwangsmaßnahme bereits nach kurzer Zeit auf, gegen den Rat der Ärzte geht er wieder nach Hause. Ende November erscheint sein Bruder im Spital und berichtet, dass Y. Morddrohungen gegen die Eltern ausstoße und "skurrile Handlungen" setze. Wieder wird der Einsatz der Polizei empfohlen, wieder wird er nach dem Unterbringungsgesetz eingeliefert.

Aus Spital "entwichen"

Am 6. Dezember flüchtet der Betroffene aus dem Krankenhaus, die Exekutive wird wegen seiner großen Gefährlichkeit alarmiert. Einen Tag später erscheint er wieder mit seinen Eltern. Die Ärzte versuchen die Familie von der Notwendigkeit einer medikamentösen Behandlung zu überzeugen – das Trio verschwindet am Ende wortlos.

Drei Tage später meldet sich der psychosoziale Dienst aus Wien-Floridsdorf im Spital und vermeldet, dass Y. mit seinem Vater erschienen sei. Das Krankenhaus bittet auszurichten, dass Y. wiederkommen soll – stattdessen sucht er im Jänner einen niedergelassenen Psychiater auf, um sich behandeln zu lassen.

Der diagnostiziert, wie auch die anderen Mediziner, eine Erkrankung aus dem schizoiden Formenkreis und verschreibt Medikamente. Insgesamt 14 Termine gibt es, den letzten am Tag vor dem nun verhandelten Vorfall. Wörgötter zitiert den letzten Eintrag im Behandlungsbogen von Y.: Der sei "nach wie vor psychotisch, hört Stimmen und fühlt sich verfolgt".

Betroffener hat sich "verfolgt gefühlt"

So auch gegen Mittag am 8. Mai. Der Betroffene war auf dem Weg in ein Fitnessstudio, wechselte in der Station Westbahnhof von der U6 in die U3. Von I. "habe ich mich verfolgt gefühlt", verrät er dem Gericht.

"Er war erst hinter mir, dann vor mir und hat Kopfhörer gehabt." Seiner Überzeugung nach konnte I. mit diesen hören, was Menschen in ihrer Wohnung machen. Als das Opfer, das gerade auf dem Heimweg vom Arzt war, mehrmals durch die Nase aufzog, fühlte Y. sich verspottet. "Ich dachte, er wusste, dass ich zu Hause geweint habe."

Auf dem Überwachungsvideo aus der Station, das an die Wand projiziert wird, ist zu erkennen, welcher Euphemismus die Bezeichnung "U-Bahn-Schubser" ist. I. steht einen guten Meter von der Bahnsteigkante entfernt und beschäftigt sich mit seinem Handy. Sekundenbruchteile, bevor die einfahrende Garnitur I.s Position erreicht, kommt Y. von hinten und stößt das Opfer mit einer derartigen Wucht, dass es zeitweise die Bodenhaftung verliert und unter den Zug stürzt.

Besserung im Gefängnis

"Haben Sie absichtlich gewartet, bis der Zug fast da gewesen ist?", will Beisitzer Norbert Gerstberger wissen. Der Betroffene weicht aus, gibt aber zu, dass ihm die Gefahr der Situation bewusst sei. Verteidiger Andreas Reichenbach vermutet sogar, dass seinem Mandanten das damals nicht bewusst gewesen sei. Heute gehe es Y. aber viel besser, wie auch Sachverständige Wörgötter und der Betroffene selbst bestätigen: Im Gefängnis bekommt er Depotspritzen der notwendigen Medikamente, die mehrere Wochen wirken.

Opfer I. kommt im Rollstuhl in den Saal und berichtet, dass er keine Chance mehr gehabt habe, zu reagieren. Die Schmerzen nach der Amputation, zahlreichen Knochenbrüchen und Prellungen seien mittlerweile überschaubar, eine Prothese sei angedacht. Zu seiner psychischen Verfassung nach dem folgenschweren Angriff kann der 35-Jährige nicht viel sagen: "Es gibt Hochs und Tiefs."

Y. will sich entschuldigen, Vorsitzender Hautz ist zunächst unschlüssig, ob das passend ist, wird aber von den Ereignissen überholt: I. steht vom Zeugenstuhl auf, balanciert auf seinem linken Bein und wartet auf Y., der von der Anklagebank kommt, ihn umarmt und unter Tränen sagt: "Es tut mir leid."

Rechtskräftige Entscheidung

Sachverständige Wörgötter sieht die Bedingungen für eine Einweisung erfüllt, die Geschworenen folgen ihr rechtskräftig. (Michael Möseneder, 2.9.2019)