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Der deutsche Autor Uwe Hermann ist seit Bestehen der Rundschau in einer ganzen Reihe Ausgaben vertreten gewesen, stets ging es dabei um Anthologien. Zufall ist das keiner: "Userland" ist zwar nicht sein allererster Roman, doch hat Hermann bislang vor allem Kurzgeschichten veröffentlicht. Wer sich diese nicht mühsam zusammensuchen will, für den gibt es übrigens eine bereits fünf Bände umfassende Sammeledition.

Abgang in die Sphäre

Den terminlichen Aufhänger für "Userland" liefert das 100-jährige Jubiläum des Berliner Fernsehturms im Jahr 2069. Von dem aus blickt man in der Romanwelt aber auf eine Stadt, die eher dem New York der 1970er Jahre ähnelt. Wirtschaftlicher Niedergang, Verwahrlosung und eine expandierende Halbwelt aus Sex- und Drogenangeboten prägen die Szenerie. Beschleunigt hat den Niedergang offenbar auch die Konstruktion der Sphäre, eines virtuellen Berlin, in das immer mehr Bürger überwechseln.

Warum sie das tun, wird im Verlauf des Romans allerdings eher rätselhafter als einleuchtender. Anders als die Werbung für die Sphäre verheißt, handelt es sich dabei nämlich keineswegs um ein Paradies. Auch im virtuellen Berlin findet man Verbrechen und Lohnarbeit vor, dazu kommen dann noch Erschwernisse neuer Art – etwa Grafikfehler mit absurden und manchmal auch gefährlichen Folgen: Kann schon mal passieren, dass ein virtueller Bürger auf Nimmerwiedersehen verschwindet, wenn's im VR-Design einen Glitch gibt. Und da man die Bewohner der Sphäre kontaktieren kann, sollten die Menschen draußen eigentlich wissen, dass sich die Emigration nur dann wirklich lohnt, wenn man unter einer tödlichen Krankheit leidet und die Sphäre für ein Leben nach dem Tod nutzen kann. Ansonsten wirkt sie auf mich eher reizlos. Aber immerhin gibt's im virtuellen Berlin keinen Klimawandel.

Schneller, schneller!

Hauptfigur Noah arbeitet im Sicherheitsdienst für das Unternehmen Goliath, das den Transfer in die Sphäre anbietet. Als wir ihn kennenlernen, ist er gerade am Tiefpunkt seines Lebens angelangt. Seine Frau Rena, eine Polizistin, ist im Einsatz getötet worden, und Noah hat seine letzten Ersparnisse dafür gegeben, ihre Essenz, wie das im Roman genannt wird, in die Sphäre zu transferieren. Entgegen Renas ausdrücklichem Wunsch, weshalb sie ihm ihre "Rettung" bis zum heutigen Tag nicht verziehen hat. Dennoch würde es Noah natürlich jederzeit wieder tun.

Die gedrückte Stimmung der Anfangspassagen lässt freilich nicht ahnen, wie turbulent es später noch werden wird. Der Plot setzt sich in Gang, als auf Goliath ein Anschlag mit mehreren Toten verübt wird. Da die Täter Noahs Zugangscode benutzt haben, wird er gefeuert und von der Polizei als Hauptverdächtiger behandelt. Allerdings spielt die Polizei auch eine recht dubiose Rolle, wie sich zeigen wird. Indes spielt ein Hacker Noah einen Datenstick zu, der nicht nur seine Unschuld beweisen soll, sondern der auch belegt, dass an der ganzen Angelegenheit etwas oberfaul ist.

Rund um diesen Datenstick als klassischen MacGuffin setzt dann eine Hochtempohandlung ein, in deren Verlauf sich ein stetig wachsendes Grüppchen bunter Charaktere um Noah ansammelt. Und dieses Fähnlein wird für den Rest des Romans mit Rennen, Retten, Flüchten und Kämpfen beschäftigt sein. Erst nur in der realen Welt, in der zweiten Romanhälfte dann auch in der Virtualität. Eine beachtliche Quote an Rufzeichen (Sie saßen in der Falle!) unterstreicht die allgemeine Hektik, die die Romanfiguren bis zum Schluss in Atem hält.

Technologische Fragen

Das Tempo hilft "Userland" sicher auch dabei, sich über die eine oder andere Logikschwäche drüberzuschwindeln. Warum etwa sollte es für Normalverbraucher unleistbare Kosten verursachen, ihren "Avatar" schlanker oder hübscher zu gestalten? Eine simpler durchführbare Modifikation ist kaum vorstellbar – erst recht im Vergleich zu den immensen Datenmengen, die für die Speicherung eines denkenden Bewusstseins draufgehen müssen. Und auch das mit der Essenz ist so eine Sache: Es handelt sich dabei nämlich um keine digitale Kopie – vielmehr wechselt anscheinend das Bewusstsein selbst ins Digitale, und der "verlassene" Körper stirbt im Anschluss ab. Klingt mir eher nach einer magischen als nach einer technologischen Angelegenheit.

Apropos Technologie: Insgesamt präsentiert sich "Userland" als Mischung dessen, wie man sich heute das Morgen vorstellt und sich gestern das Übermorgen vorgestellt hat. 3D-Drucker und E-Autos auf Kugelreifen treffen da auf anthropomorphe Roboter, eine auf die Minute getimte Wetterkontrolle und Gebrauchsgegenstände wie das Empathiephone (ein Wort, das ähnlich retro klingt wie der im selben Satz genannte polnische Krauteintopf). Es ist ein bunter Mix aus aktuellen Ideen und Golden-Age-SF. Die allgemeine Anredeform mit "Bürger" tut ein Übriges, "Userland" tendenziell retrofuturistisch wirken zu lassen.

Gesamtbewertung: "Userland" ist definitiv nicht der Roman, der das Genre Science Fiction neu definiert, aber auf seine Old-School-Weise angemessen unterhaltsam. Und lässt am Ende noch genügend Aspekte offen, um – bei ebenso angemessenem Verkauf – einen Nachfolger zu ermöglichen.