In dem eindrucksvoll großen Atelier in Paris steht ein Sofa, überzogen mit schwarzem Stoff mit roten Mondsicheln darauf – das Erkennungszeichen des jungen, angesagten Modelabels Marine Serre. Darauf sitzt die gleichnamige Designerin. Um sie herum schwirren junge Leute, die immer wieder mit Fragen zu ihr kommen. Es herrscht reger Betrieb, doch die zarte, 27-jährige Französin mit den kurzen, dunklen Haaren, die noch Karl Lagerfeld für sich begeistern konnte, ist ruhig, gibt bestimmte und klare Antworten. Auch für uns nimmt sie sich Zeit, erzählt, wie sie ihren eigenen Weg in der Modewelt geht.

Future-Wear nennt Marine Serre ihre Mode. Auch die Inszenierung der aktuellen Kollektion wirkt futuristisch.
Foto: Rick Farin / Claire Cochran

STANDARD: Sie haben das Upcycling zu Ihrem Markenzeichen gemacht. Darf man das als Statement verstehen?

Serre: Ich habe dieses Prinzip, das jetzt zum Glück trendig geworden ist, schon immer gelebt. Ich bin auf dem Land aufgewachsen. Dinge im Haus und Garten, auch Stoffe, wurden wiederverwendet. Ich war immer fasziniert von verschiedenen Materialien und Farben, habe mit Stoffen experimentiert, sie zerschnitten, bestickt und neu zusammengenäht. Bewusstes Upcycling habe ich aber erst an der Kunst-Uni betrieben. Ich habe aus Abdeckplanen Regenmäntel geschneidert und gebrauchte Wolldecken gekauft, die ich geschoren und in einen Wintermantel verwandelt habe. Für eine Kollektion habe ich Kleider aus iranischen Teppichen genäht.

STANDARD: Wie bekommen Sie das nötige Grundmaterial für das Upcycling?

Serre: Ich baue derzeit ein Team auf, das nach Lagerhäusern forscht, die Restbestände von Stoffen, Handtüchern oder Teppichen, aber auch Seidentüchern, Militärhosen, Jeans, Decken, Angeljacken oder irischen Wollpullovern haben. Es wird geprüft, was verfügbar und interessant für uns ist. Das wird dann hierhergebracht, gereinigt und umgestaltet. "Green Line" heißt unsere ökofuturistische Upcycling-Linie.

STANDARD: Die Nachfrage nach Ihrer Mode war schnell da. Sie haben früh im angesagten Concept-Store Dover Street Market verkauft. Wie sind Sie mit der Produktion hinterhergekommen?

Serre: Der Gründer des Dover Street Market, Adrian Joffe, schaute sich die 15 Looks meiner Abschlusskollektion an. Er kaufte sie und bestellte mehr. Plötzlich war ich tatsächlich mit Produktionsfragen konfrontiert: Wo finde ich Stoffe, wo kann ich produzieren, und wie wird geliefert? Für den Sommer 2017 musste ich bereits 500 Stücke liefern. Viele davon waren Upcycling-Einzelstücke. Bis zum Herbst habe ich parallel dazu noch für Demna Gvasalia von Balenciaga gearbeitet, da seine Kollektion im Oktober präsentiert wurde. Im Juni, Juli und August hatte ich zwei Jobs, seine Kollektion und meine Kollektion. Das war intensiv.

STANDARD: Die Modeindustrie ist schnell auf Sie aufmerksam geworden. 2017 haben Sie den renommierten Nachwuchspreis der Louis-Vuitton-Moët-Hennessy-Gruppe (LVMH) gewonnen. Was hat sich seither verändert?

Serre: Mein Label, das es zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht gab, ist schnell gewachsen. 2017 haben wir zu zweit an meiner Kollektion gearbeitet, 2018 zu sechst, heute sind wir 36 Personen. Ich bin von einer 15 Quadratmeter kleinen in eine 75 Quadratmeter große Wohnung übersiedelt, deren Wohnzimmer zu meinem Atelier wurde. Erst vor ein paar Monaten haben wir dieses riesige Studio gefunden und haben uns hier eingerichtet. Es war notwendig, mehr Raum zu haben.

Marine Serre wurde 1991 im französischen Corrèze geboren, studierte in Marseille sowie Brüssel Mode und absolvierte Praktika bei Dior, Maison Margiela und Alexander
McQueen. Nach dem Uni-Abschluss 2016 arbeitete sie für Balenciaga, entwickelte parallel eine eigene Kollektion. 2017 erhielt Serre den "Young Fashion Design Prize". Seitdem ist ihr Label international angesagt, wird von Stars wie Beyoncé oder Kendall Jenner getragen. www.marineserre.com
Foto: Chris Colls

STANDARD: Im selben Jahr wurden Sie in den Pariser Modekalender aufgenommen. Für Ihre erste Show haben Sie sich Zeit gelassen bis zum Frühjahr 2018. Wieso?

Serre: Nach dem Gewinn des Preises im Juni erwartete man von mir eine Show im September. Dagegen hab ich mich gewehrt, weil ich gemerkt habe, dass mir das zu viel war. Wenn man sich und seine Visionen durchsetzen will, ist man oft im Ablehnungsmodus. In der Modewelt muss man kämpfen, es herrscht ein ungeheures Tempo. Hier kann schnell vieles entstehen, und genauso schnell verschwindet vieles wieder. Ich wollte und will weiterhin Kontrolle über mein Label haben. Der Luxus eines unabhängigen Labels besteht darin, tun zu können, was man will.

STANDARD: Und was wollten Sie tun?

Serre: Wichtig war mir zuallererst, ein gutes Team aufzubauen. Außerdem habe ich ein bisschen Zeit gebraucht, um zu überlegen, was ich will. Ich habe mich immer als Künstlerin verstanden und plötzlich begriffen, dass ich schon zu einer Unternehmerin geworden war. Das warf Fragen auf: Warum mache ich Kleidungsstücke? Warum braucht die Welt ausgerechnet meine Mode? Was kann ich am besten? Was mache ich anders?

STANDARD: Zu welchem Schluss sind Sie gekommen?

Serre: Die Antwort war: Upcycling. Das machte Sinn. Ich liebe Transformation, ich liebe Vintage-Kleidung.

STANDARD: Karl Lagerfeld war ein Fan von Ihnen. Er meinte: "1,50 Meter, aber ein Wille aus Stahl".

Serre: Ich fühlte mich sehr geehrt, wir trafen uns ein paar Mal. In einem Gespräch fragte er mich, wie ich so viel Arbeit gleichzeitig erledigen kann: "Sie verkaufen, entwerfen, produzieren Ihre eigene Linie und arbeiten gleichzeitig bei Balenciaga?" Karl Lagerfeld lud mich auch zu seinen Modeschauen ein. Ehrlich gesagt habe ich diese Mode nie kapiert, aber durch unseren Austausch kann ich seine Ära und den damaligen Zeitgeist nachvollziehen. (Cordula Reyer, RONDO, 14.11.2019)