Im Gastkommentar zeigt sich die Ökonomin Dalia Marin überzeugt, dass eine wirtschaftliche Erholung auch die psychologische Spaltung Deutschlands heilen würde. Politologe Gero Neugebauer setzt sich in einem weiteren Gastkommentar mit AfD und Linkspartei auseinander.

Heute betrachten sich über ein Drittel der Ostdeutschen als Bürger zweiter Klasse. Entgegen ihren Erwartungen nach der deutschen Wiedervereinigung 1990 ist der Osten des Landes nicht so wohlhabend geworden wie der Westen. Da überrascht es nicht, dass die Ostdeutschen heute anders denken, fühlen und wählen als die Westdeutschen. Tatsächlich ist Deutschland ein Land mit zwei Seelen.

Der letzte Hinweis darauf kam am Sonntag, als die fremdenfeindliche und rechtslastige Alternative für Deutschland (AfD) bei den Regionalwahlen in den ostdeutschen Bundesländern Sachsen und Brandenburg einen starken zweiten Platz erringen konnte – mit 27,5 und 23,5 Prozent der Stimmen. In den westdeutschen Bundesländern ist der Stimmenanteil für die AfD normalerweise nur halb so hoch.

Blühende Landschaften

Die politische Spaltung Deutschlands in Ost und West spiegelt erhebliche wirtschaftliche Unterschiede wider. Zwischen 1991 und 1996 konnte sich das Pro-Kopf-Einkommen in Ostdeutschland von 42 auf 67 Prozent des westdeutschen Niveaus steigern. Aber in den zwanzig Jahren nach 1996 stieg dieser Wert dann nur noch geringfügig auf 74 Prozent. Mit anderen Worten: Der Prozess der wirtschaftlichen Annäherung nach 1989 kam bereits vor 25 Jahren ins Stocken. Die "blühenden Landschaften", die der ehemalige deutsche Kanzler Helmut Kohl 1990 im Osten vorhersah, konnten bisher nicht verwirklicht werden.

Der Aufschwung im Osten Deutschlands ist nie so richtig in Fahrt gekommen.
Foto: APA/zb/Jens Wolf

Dass die wirtschaftliche Annäherung innerhalb Deutschlands zum Stillstand gekommen ist, hat weitgehend politische Gründe: Vor der Wiedervereinigung im Oktober 1990 entschied sich die westdeutsche Regierung dafür, den Handel mit Ostdeutschland über Nacht zu liberalisieren. Alle Hindernisse, die dem freien Fluss von Kapital und Arbeit im Wege standen, wurden abgebaut. Die Umtauschrate zwischen der Ostmark und der Deutschen Mark wurde für kleinere Beträge auf 1:1 und für größere Summen auf 2:1 festgelegt. Durch diese Währungsreform stiegen die ostdeutschen Löhne auf westliches Niveau, obwohl die Produktivität im Osten bei nur zehn Prozent der westlichen lag. So ging der ostdeutsche Produktionssektor über Nacht bankrott, und seine Unternehmen mussten ihre osteuropäischen Märkte aufgeben.

Massive Subventionen

1990 führte die ostdeutsche Regierung eine neue Superbehörde, die Treuhandanstalt ein, um den Produzenten des Landes beim Überleben zu helfen. Diese Behörde privatisierte und verkaufte ostdeutsche Unternehmen und Vermögenswerte gegen Arbeitsplatzgarantien an westliche Firmen – häufig zu einem symbolischen Preis von einem Euro. Diese massiven Subventionen gaben den westlichen Unternehmen einen Anreiz, sich im Osten anzusiedeln, obwohl dieser nun sein wettbewerbsfähiges Lohnniveau verloren hatte. Das Programm funktionierte: Bis 1994 hatte die Treuhandanstalt so gut wie alle ostdeutschen Unternehmen an westliche Investoren verkauft, und die Behörde wurde aufgelöst.

Eine Weile lang wuchs die ostdeutsche Wirtschaft schnell und näherte sich an die westdeutsche an. Aber ohne weitere Subventionen der Treuhandanstalt wollten die westlichen Firmen nicht mehr in Ostdeutschland investieren. Als die Investitionen ausblieben, kam der innerdeutsche Angleichungsprozess zum Stillstand.

Gehasste Treuhand

Unterdessen fingen die Ostdeutschen an, die Treuhandanstalt zu hassen. Sie betrachteten sie als die Behörde, die wertvolle Güter an westliche Unternehmen verschenkt habe. Detlev Rohwedder, ihr erster Vorsitzender, wurde 1991 ermordet, und bis heute geben zwei populistische Parteien – die Linke und die rechtsgerichtete AfD – der Behörde die Schuld für die wirtschaftliche Misere Ostdeutschlands.

Nach 1989 wurde den Ostdeutschen gesagt, zur Treuhandanstalt gäbe es keine Alternative, weil sie keine hochwertigen Güter zu verkaufen hätten. Aber das Prinzip des Wettbewerbsvorteils besagt, dass ein Land immer etwas zu verkaufen hat, wenn seine Löhne und Preise nur niedrig genug sind. Leider hielten die hohen Löhne und Preise nach der Währungsreform von 1990 die ostdeutsche Wirtschaft davon ab, so aufzublühen wie andere osteuropäische Länder nach dem Zusammenbruch des Kommunismus.

Gefühl der Wertlosigkeit

Das Narrativ, sie hätten "nichts zu verkaufen" und einen "minderwertigen Produktionssektor", hatte auf die ostdeutsche Psyche einen verheerenden Effekt. Die Menschen glaubten, in einer Marktwirtschaft seien sie wertlos, und so verloren sie ihre Würde. In den 1990ern arbeitete ich an der Berliner Humboldt-Universität im Osten der Stadt und erfuhr dieses Gefühl der Wertlosigkeit der Ostdeutschen aus erster Hand.

Der größte Fehler der deutschen Regierung war allerdings, nach dem Verkauf der ostdeutschen Güter auch noch die Treuhandanstalt aufzulösen. Stattdessen hätte die Behörde ortsfremden Unternehmen, die in Ostdeutschland investieren wollten, weiterhin Subventionen anbieten müssen, um einen Ausgleich für die hohen Löhne dort zu schaffen.

Gleichwertige Lebensbedingungen

Aber es ist für Deutschland nie zu spät, den wirtschaftlichen Annäherungsprozess wieder in Gang zu bringen. Zum Glück diskutiert die Regierung nun darüber, wie im Osten und Westen des Landes gleichwertige Lebensbedingungen geschaffen werden können. Indem sie wirtschaftliche Anreize für Investitionen in Ostdeutschland setzen, können die Politiker immer noch die blühenden Landschaften aufbauen, die Kohl vor Augen hatte.

Darüber hinaus würde eine wirtschaftliche Erholung nicht nur materielle Vorteile bringen. Sie könnte auch dazu beitragen, die psychologische Spaltung Deutschlands zu heilen – und damit auch die Tendenz der Ostdeutschen, extremistische Parteien zu wählen, die von ihren Ängsten leben. (Dalia Marin, Übersetzung: Harald Eckhoff, Copyright: Project Syndicate, 4.9.20109)