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Das Testgelände in Njonoxa.

Foto: AP/Sergei Yakovlev

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Dorffest in Njonoxa, 7. Oktober 2018.

Foto: AP/Sergei Yakovlev

Dass in den Morgenstunden des 8. August auf einer schwimmenden Plattform im Weißen Meer vor dem russischen Waffentestgelände Njonoxa etwas nicht wie geplant ablief, ist erwiesen. Bei einer Explosion kamen fünf Techniker und zwei Soldaten ums Leben, kurz darauf registrierten Sensoren in der 30 Kilometer entfernten Stadt Sewerodwinsk eine Strahlungsspitze. Was genau an diesem Donnerstag in Russlands hohem Norden getestet wurde, halten die Behörden weiter geheim, aber in russischen sozialen Medien finden sich zahlreiche Indizien.

Die schwimmenden Plattformen

Offenbar ereignete sich die Explosion unter einer von zwei schwimmenden Plattformen, die vor der Küste vertäut waren. Auf kurz nach dem Unglück veröffentlichten Satellitenbildern waren neben mehreren Schiffen auch die beiden 9,5 mal 19 Meter großen Pontons zu erkennen.

Am Dienstagabend wurden Bilder veröffentlicht, die eine beschädigte Plattform, die mittlerweile an den Strand geschleppt wurde, aus der Nähe zeigen. Der Ponton liegt offenbar unbewacht am Strand. Deutlich erkennbar ist, dass auf einer Seite die Blechbeplankung eingedrückt ist, was ebenfalls für eine Explosion unter Wasser spricht.

Derartige Pontons werden normalerweise für die Versorgung abgelegener Küstenregionen, wo es keine Häfen oder Anleger gibt, verwendet. Die beiden bei dem Unglück beschädigten Exemplare wurden im Sommer 2018 nach Spezifikationen des Russischen Föderalen Kernforschungszentrums umgebaut.

Die blauen Container

Auf beiden Plattformen stehen blaue Container, wie sie immer wieder in der Nähe russischer Waffentests gesichtet werden.

Test eines laut russischen Angaben nuklear angetriebenen Marschflugkörpers, veröffentlicht am 1. März 2018.
Минобороны России

Es handelt sich um Spezialanfertigungen der Hersteller Ekomet-S und Spetstekhkomplekt, die eine 24- und 30-Tonnen-Variante anbieten. Die Behälter dienen zum Transport radioaktiver Feststoffe.

Ein Blick ins Innere eines der Container.

Oberst Bosys seltsamer Auftritt

Am 12. August lud Wladimir Bosy, der Kommandant des Testgeländes, die Bewohner der Ortschaft Njonoxa zu einer Informationsveranstaltung ein. Im Netz veröffentlichte Videos zeigen, wie er sich bemüht, die besorgten Bürger zu beruhigen: Er erklärt, dass niemand in Gefahr sei, solange man kein möglicherweise strahlendes Strandgut einsammle.

Heimlich aufgenommenes Video der Informationsveranstaltung.
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Als ein Dorfbewohner fragt, warum die damals kurz bevorstehende und dann kurzfristig abgesagte Evakuierung des Dorfes unbedingt um vier Uhr morgens stattfinden müsse, antwortet Bosy, solche Tests würden bei Dunkelheit durchgeführt, um zu verhindern, dass feindliche Spionagesatelliten diese fotografieren.

Eine Dorfbewohnerin, deren Verwandte an dem Treffen teilnahmen, sagte Radio Liberty, diese hätten dem Oberst Beeren aus ihrem Garten mitgebracht, die dieser widerspruchslos verzehrt habe – wohl um zu belegen, dass dies ungefährlich sei.

Am 8. August, erklärt Bosy, sei es zu einer Explosion unter einem Ponton gekommen. An diesem Tag habe allerdings kein Test stattgefunden, sondern "viel früher". Dazu würde passen, dass vom 15. bis 20. Oktober 2018 eine Sperre des Luftraums über dem Testgelände ausgerufen wurde.

Die Spezialschiffe Serebrjanka und Swjosdotschka

Kurz darauf, am 25. Oktober des Vorjahrs, fuhr das Frachtschiff Serebrjanka, das mit Millionenhilfe aus Norwegen und Schweden für den sicheren Transport radioaktiver Materialien ausgerüstet wurde, in den Dwinabusen vor Archangelsk ein, wo es fünf Tage blieb, bevor es zur Sewmasch-Werft in Sewerodwinsk weiterfuhr. Dort werden seit den 1950er-Jahren Kriegsschiffe und U-Boote gebaut.

Die Serebrjanka in ihrem Heimathafen Murmansk.

Die Serebrjanka war auch bei der Explosion am 8. August vor Ort, verließ das Testgelände aber diesmal schon einen Tag nach dem Unglück. Mittlerweile ist es gelungen, ein zweites Spezialschiff, das vier Tage nach der Explosion mit abgeschaltetem Transponder zur Unglücksstelle eilte, zu identifizieren: Das Bergungsschiff Swesdotschka ("Sternchen") ist anhand seiner Hubschrauberplattform und der beiden gelben Kräne leicht zu erkennen.

Die Swesdotschka auf dem Weg zur Unfallstelle.

Die 2010 vom Stapel gelassene Swesdotschka ist mit zwei ferngesteuerten Unterwasserfahrzeugen ausgestattet, die es ermöglichen, Objekte aus großer Tiefe zu bergen.

Sewerodwinsk, 15. Juni 2010: Der damalige Präsident Dmitri Medwedew lässt sich einen der Tauchroboter der Swesdotschka erklären.
Foto: Kreml

Die prominenten Todesopfer

Bei dem Unglück kamen die Nuklearexperten Alexej Wjuschin, Jewgeni Koratajew, Wjatscheslaw Lipschew, Sergej Pitschugin und Wladislaw Janowski sowie zwei unbenannte Soldaten ums Leben. Vom Softwarespezialisten Wjuschin weiß man, dass er bis 2016 am Teilchenphysik-Experiment Alice der Europäischen Organisation für Kernforschung (Cern) beteiligt war, die in Genf den leistungsstärksten Teilchenbeschleuniger der Welt betreibt. Der 71-jährige Janowski war laut BBC stellvertretender Leiter der Testabteilung des Russischen Föderalen Kernforschungszentrums in der gesperrten Stadt Sarow.

Die angeblichen Augenzeugen

Soziale Netzwerke und Foren in der Region Archangelsk verzeichnen derzeit besonders viele Zugriffe aus der ganzen Welt. Nachdem User auf dem russischen Facebook-Pendant Vkontakte Bilder der beschädigten Testplattformen veröffentlichten, wurde die Gruppe "Njonoxa in meinem Herzen" eine Woche lang sogar für Neuanmeldungen gesperrt.

In der VK-Gruppe "Leben in Sewerodwinsk" wurde ein Video gepostet, auf dem die Plattformen deutlich zu erkennen sind, und im Forum sanatatur.ru tauschen sich Fischer aus der Gegend über ihre Erlebnisse aus. "Sie haben einen Gefechtskopf geborgen, den sie letztes Jahr verloren haben, und er ist auf dem Ponton explodiert. Zwei Menschen werden seither vermisst", schreibt etwa User "Sjatnik" (registriert seit 2011 und damit ein Pionier des Forums), andere Poster berichten von "etwa hundert Meter hohen Wassersäulen" nach der Explosion oder wollen Ölsperren im Wasser gesehen haben.

Ein Ausflug nach Njonoxa, inklusive Geigerzähler. Die Plattform liegt unbewacht am Strand.
БЕЛОМОРКАНАЛ

Überprüfbar sind solche Angaben freilich schwer, und so suchen Experten im Westen weiter aussagekräftige Hinweise: Der Nuklearforscher Marco Kaltofen vom Worcester Polytechnic Institute in Massachusetts bemüht sich zum Beispiel, gebrauchte Autoluftfilter aus der Region aufzutreiben, um die darin abgelagerten Substanzen zu überprüfen und so Rückschlüsse auf den Unfallhergang ziehen zu können, berichtet "Nature". Ein solcher Filter aus der Nähe von Archangelsk ist bereits bei einem westlichen Forschungsinstitut gelandet, die Auswertung lieferte aber vorerst keine auffälligen Ergebnisse, wie der STANDARD erfuhr. (bed, 4.9.2019)