Der Tory-Abgeordnete Phillip Lee wechselte zu den Liberaldemokraten.

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Sein Abgang hätte spektakulärer nicht sein können: Mitten in der Rede seines Parteichefs und Premiers Boris Johnson im Unterhaus stand der konservative Abgeordnete Phillip Lee auf und wechselte von den Sitzen der Regierungsfraktion auf die Oppositionsbänke. Genüsslich ließ er sich unter überraschten Rufen der Tories zwischen den Abgeordneten der Liberaldemokraten nieder. John Bercows üblicherweise grollende Ordnungsrufe klangen diesmal mehr nach Schnappatmung.

Hätte sich der Schreck über den folgenschweren Fraktionswechsel in ärgere Symptome verwandelt, hätte Phillip Lee helfen können. Der 49-jährige Brexit-Gegner ist im bürgerlichen Leben Arzt und ordiniert noch alle zwei Wochen. Die Diagnose, die er seiner Ex-Partei stellt, ist schmerzhaft wie treffend: Die Tories seien "von den Zwillingskrankheiten" Populismus und Nationalismus befallen. Er könne eine Mitgliedschaft mit seinem Gewissen nicht mehr vereinbaren. Die Liberaldemokraten wollen wie er ein zweites Brexit-Referendum, um die aktuelle Stimmung im Land auszuloten.

Phillip Lee, Tory-Parteimitglied seit Studienzeiten, stand immer schon gerne für seine Überzeugungen ein. So stimmte er gegen das High-Speed-2-Eisenbahnprojekt der britischen Regierung und 2013 gegen militärische Aktionen in Syrien. Der aktuelle Fraktionswechsel ("crossing the floor") war nicht Lees erster Brexit-bedingter Rückzug: Im Juni des Vorjahres warf er die Position des Staatssekretärs im Justizministerium wegen Differenzen um den Austritt hin.

Damals argumentierte der verheiratete Vater, er könne bessere Arbeit in seinem nahe London gelegenen Wahlbezirk Bracknell leisten, dessen Vertreter er seit 2010 ist. In der Wahl schlug der moderate Konservative pikanterweise den gegen ihn antretenden Liberaldemokraten.

Durch Lees Fraktionswechsel verliert nicht nur Boris Johnson seine hauchdünne parlamentarische Mehrheit, sondern auch das konservative Fußballteam im britischen Parlament einen begeisterten Spieler. Dem Boxklub im Parlament wird Lee aber treu bleiben, denn auch als Liberaldemokrat wird es ihm in den nächsten Tagen wohl oft danach sein, sich zumindest sportlich abzureagieren.

Fraktionswechsel sind in Großbritannien übrigens alles andere als üblich, kommen aber vor. 1904 wechselte auch ein gewisser Winston Churchill von den Tories zu den Liberalen – und 1924 wieder zurück. Das schließt Lee aus. (Manuela Honsig-Erlenburg, 4.9.2019)