Um seine Pläne für einen britischen Abschied aus der EU durchzusetzen, brachte Boris Johnson am Mittwoch sogar rasche Neuwahlen ins Spiel.

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Brexit-Hardliner Jacob Rees-Mogg langweilte sich demonstrativ während der Parlamentsdebatte – was ihm als Arroganz und Missachtung des Unterhauses ausgelegt wurde.

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Das britische Unterhaus hat am Mittwoch für die Verschiebung des Brexits bis zum 31. Jänner 2020 gestimmt, falls es vorher keinen Ausstiegsvertrag gibt. Damit stellt es sich – erneut – gegen Premier Boris Johnson, der Großbritannien spätestens bis zum 31. Oktober aus der EU führen will und dafür auch einen Brexit ohne Abkommen in Kauf nehmen würde. Der Gesetzesvorschlag des moderaten Labour-Abgeordneten Hilary Benn, der einen No-Deal-Brexit vorerst blockiert, wurde mit 327 zu 299 Stimmen angenommen. Wieder stimmten viele Tory-Abgeordnete gegen ihren Premier. Nun ist das Oberhaus am Zug. In der Nacht auf Donnerstag beschloss das Kabinett, dem Gesetz gegen einen No-Deal-Brexit auch im Oberhaus keine Steine mehr in den Weg zu legen.

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In einer weiteren Abstimmung lehnten die Abgeordneten Johnsons Antrag auf Neuwahlen am 15. Oktober ab. Weil sich die Labour-Partei enthielt, kam die erforderliche Zweidrittelmehrheit nicht zustande. Johnson will den Urnengang zwei Tage vor dem EU-Gipfel, an dem mit den EU-27 eine Verschiebung oder eine Ausstiegsabkommen vereinbart werden müsste. In EU-Kreisen heißt es, ein spontaner Brexit-Deal am Gipfel sei kaum vorstellbar. Labour-Chef Jeremy Corbyn will Neuwahlen nur zustimmen, wenn das Anti-No-Deal-Gesetz in Kraft getreten ist.

Demonstranten in Westminster

Schon am Mittwochmittag tummelten sich kleine Gruppen von Demonstranten. Routiniert riefen sich Brexit-Befürworter unter dem Banner der gleichnamigen Partei und Anti-Brexiteers mit Europafahnen gegenseitig Beleidigungen zu, mehr amüsiert als wachsam beäugt von Polizisten.

Im Plenarsaal saßen, als hätte sich nichts geändert, Margot James und David Gauke auf den Bänken hinter dem Premierminister. Johnson erwiderte die Fragen der früheren Staatssekretärin und des Ex-Justizministers wie gehabt mit der Anrede "meine ehrenwerte Freundin" und "mein ehrenwerter Freund" – als gehörten sie noch immer derselben Fraktion an.

Gefolgschaft verweigert

Dabei zählt das Duo zu den 21 Konservativen, die am Dienstagabend dem gerade erst seit sechs Wochen amtierenden Premierminister die Gefolgschaft verweigert hatten. Als Teil einer parteienübergreifenden Allianz von Parlamentariern nahmen sie der Minderheitsregierung die Hoheit über die Tagesordnung und damit die politische Initiative aus der Hand.

Die Antwort kam wenige Minuten nach der Abstimmung: Wie angekündigt warf der Fraktionsgeschäftsführer ("chief whip") die Rebellen aus der Fraktion und Partei. Ex-Entwicklungshilfeminister Rory Stewart erhielt eine entsprechende SMS – wenige Momente bevor er beim Galaevent eines Männermagazins die Trophäe als Politiker des Jahres entgegennehmen durfte. "Ich bin ab sofort ein Ex-Politiker", scherzte der 46-Jährige mit Galgenhumor.

Nicht überall mitmachen

Das ist natürlich übertrieben, einstweilen amtiert Stewart weiterhin als Abgeordneter für den nordenglischen Wahlkreis Penrith – "und ein Konservativer bleibe ich auch", sagt er tags darauf in Interviews. Aber ein Parteigänger des Regierungschefs, dessen Strategie auf den chaotischen Brexit am 31. Oktober abzielt – das will Stewart nicht sein.

Und so vollendete er am Mittwochabend, worauf das parlamentarische Manöver tags zuvor abgezielt hatte: Die Anti-Chaos-Allianz verabschiedete gegen den ausdrücklichen Willen der Regierung ein Gesetz, das einen No-Deal-Brexit ausschließen soll. Dem Premierminister bleibt bis 18. Oktober Zeit für eine neue Vereinbarung mit der EU über einen geordneten Austritt. Gelingt ihm das nicht, muss er in Brüssel um einen neuerlichen Aufschub bis Ende Jänner 2020 bitten.

Wozu der aber dienen soll? Ist es wirklich an der Zeit, dem Unterhaus erneut jenes Verhandlungspaket der früheren Premierministerin Theresa May vorzulegen, das doch dreimal abgelehnt wurde? Stewart argumentiert ebenso dafür wie der Labour-Hinterbänkler Stephen Kinnock. Als Sprecher einer Gruppe von 18 Labour-Abgeordneten, deren Wahlkreise im Juni 2016 für den Brexit votiert hatten, wirbt dieser für das May-Paket – angereichert um Garantien für Arbeitnehmerrechte und Verbraucherschutz. Es ist das Ergebnis von Gesprächen zwischen Regierung und Opposition, gelangte aber nie zur Abstimmung.

Kompromiss möglich?

Stehen die Zeichen aber auf Kompromiss an diesem windigen Frühherbsttag? Die Rhetorik im Plenarsaal ließ diesen Schluss zunächst nicht zu, im Gegenteil: Alles deutete auf Wahlkampf hin. Johnson wetterte gegen seine Entmachtung, nannte das No-Deal-Verhinderungsgesetz achtmal "Kapitulationsgesetz" und beteuerte, er werde das "zögerliche Hin und Her" nicht mitmachen. Erneut wiederholte er, er wolle keine Wahl; dann aber tadelte er Labour-Oppositionsführer Corbyn dafür, dass dieser einem vorgezogenen Urnengang am 15. Oktober einstweilen die Zustimmung verweigert.

Die Begründung dafür lieferte der normalerweise milde Labour-Mann Paul Blomfield, indem er Johnson ins Gesicht sagte: "Die Leute glauben kein Wort von dem, was er sagt." Tatsächlich würde eine Klausel im einschlägigen Gesetz dem Premierminister nach erfolgter Zustimmung zur Wahl eine Änderung des Termins erlauben. Johnson könnte also die Wahl auf einen Tag nach dem vorgesehenen Brexit-Termin verlegen, was das neue Gesetz verhindern soll.

Welchen Effekt ein No-Deal-Brexit hätte, erörterte das Brexit-Komitee am Mittwochmorgen anhand der Situation in den Ärmelkanalhäfen und beim Eurotunnel, aber auch an der inneririschen Grenze. Die Plätze der konservativen Abgeordneten blieben dabei leer. Wollten sie auf dem Weg zum bedingungslosen Brexit schlechte Nachrichten nicht hören? Die Lebensmittel, die in Supermärkten verkauft werden, stammten "zu 80 Prozent vom Kontinent", erläuterte Andrew Opie vom Einzelhandelsverband BRC und warnte vor Versorgungsengpässen und Preiserhöhungen. Manches ändert sich eben nicht. (Sebastian Borger aus London, 4.9.2019)