Der Fall Polanski fragt danach, wieso es eine berufliche Zukunft gibt, wenn sexualisierte Gewalt unstrittig stattgefunden hat.

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So weit ist es also schon gekommen: Jetzt kann man sich nicht einmal mehr in Ruhe Kinofilme abschauen, ohne dass man dabei vom Hintergrundrauschen aktueller Debatten belästigt wird.

Anscheinend sind selbst die kürzlich zu Ende gegangen Filmfestspiele von Venedig vor feministischen Umtrieben nicht sicher. Diesen Eindruck konnte man jedenfalls angesichts des Schlagabtauschs, den sich der Direktor des Festivals mit der Jurypräsidentin um den Wettbewerbsbeitrag des Regisseurs Roman Polanski lieferte, gewinnen. Während der eine sein Vorgehen damit begründete, dass man Kunst vom Künstler trennen müsse, vertrat die andere die genau entgegensetzte Position. Nämlich dass es unmöglich ist, beides vollständig voneinander losgelöst zu betrachten.

Die Rückkehr Polanskis ins Rampenlicht der Filmindustrie markiert einen sichtbaren Wendepunkt in der seit zwei Jahren andauernden #MeToo Debatte. Auf das Bekanntwerden der ersten schockierenden Fälle folgte eine Phase der intensiven Auseinandersetzung darüber, inwieweit nicht bereits öffentliche Anschuldigungen eine Vorverurteilung darstellen. Mittlerweile wurde diese Phase von einem Prozess schleichender Comebacks der Beschuldigten abgelöst.

Aufschrei gegen das System

Louis CK, James Franco, Avital Rodnell, Bryan Singer – vielen gelingt es, nach kurzem Innehalten ihre Karrieren fortzusetzen. Aber niemandem von den Genannten schafft das annähernd so konsequent wie Roman Polanski. An ihm hat Hollywood schon festgehalten, als Harvey Weinstein gerade einmal Mitte zwanzig war. Die Frage, ob es eine berufliche Zukunft nach Anschuldigungen bezüglich sexualisierter Gewalt geben kann, wird mit Polanski in einer Weise zugespitzt, der man sich eigentlich nicht entziehen darf. Dieser Fall fragt danach, wieso es eine berufliche Zukunft gibt, wenn sexualisierte Gewalt unstrittig stattgefunden hat.

In diesem Zusammenhang lohnt es, sich daran zu erinnern, warum #MeToo angeblich mit so viel Furor vorgegangen ist. Dieser vielstimmige Aufschrei hat sich nicht nur gegen die eigentlichen Taten gerichtet, sondern auch gegen das System, das die Taten ermöglicht hat, und die Menschen, die sie beschwiegen und verharmlost haben. Und zwei Jahre nach #MeToo scheinen wir wieder in das so vertraute entspannt-distanzierte Sprechen über Gewalt zurückzufallen: "Polanski wurde 1977 wegen Vergewaltigung einer Minderjährigen angeklagt. Nachdem sich der Richter nicht an eine vereinbarte Absprache hielt, floh der Regisseur aus den USA und lebt seither in Frankreich."

Das mit der gescheiterten Absprache ist korrekt. Was dieser und andere Artikel "irgendwie" vergessen zu erwähnen, ist die Tatsache, dass Polanski sich des "ungesetzlichen Geschlechtsverkehrs" schuldig bekannt hat. Er hat einem dreizehnjährigen Mädchen Alkohol eingeflößt, sie unter Drogen gesetzt und sie anschließend vergewaltigt. Ein Umstand, den sein Regiekollege Quentin Tarentino 2003 mit den Worten "Das war keine Vergewaltigung. Sie wollte es doch!" kommentierte.

Random Rants of Ryan

Unter den Tisch fällt dabei auch, dass Polanski mittlerweile von fünf weiteren Frauen der sexualisierten Gewalt gegen sie beschuldigt wurde – darunter ein mutmaßliches Opfer, das er als Zehnjährige belästigt haben soll. All das wird nun wieder wie Jahrzehnte zuvor ausgeblendet und verblasst vor dem Geniekult um Roman Polanski. Stattdessen beklagt man beim "Spiegel" eine "schale Debatte" und diagnostiziert eine "extrem verkürzte Skandal- und Empörungslunte".

Das ist grundsätzlich gar nicht mal falsch. In den vergangenen zwei Jahren gab es mehr als einen Fall, bei dem Dinge sehr aufgeregt und sehr wütend gleichgesetzt wurden, die besser differenzierter hätten betrachtet werden sollten. Zugleich verkennt diese Diagnose den Grund der Verkürzung. Nämlich dass #MeToo von einem Punkt aus gestartet ist, an dem die Skandal- und Empörungslunte mehrere Jahrzehnte lang war. Und wenn sie überhaupt mal angesteckt wurde, kam gleich jemand vorbei und trat sie wieder aus. #MeToo, das ist neben vielem anderen auch die Suche nach und das Anstecken von alten, längst verblichenen Lunten.

Es ist, wie die Journalistin Nicole Schöndorfer in einem ihrer durchweg klugen und hörenswerten Podcasts gesagt hat: Zwei Jahre nach #MeToo scheint irgendwie die Luft raus zu sein. Man(n) hat sich interessiert gezeigt, eifrig mit den Köpfen genickt, aber jetzt reicht es dann auch wieder.

Unbequeme Fragen

Selbstbestimmung, Einvernehmlichkeit und Teilhabe sind inzwischen abgefrühstückt, es kann wieder zur Tagesordnung zurückgekehrt werden. Und die Tagesordnung besteht eben auch darin, über sexualisierte Gewalt wieder in Rechtfertigungen, Verharmlosungen und ganz allgemein mit viel Verständnis zu reden. Sie nimmt sich heraus, Differenzierung einzufordern, übersieht dabei aber vollkommen, dass die notwendige Differenzierungsarbeit im Fall Roman Polanski nicht darin besteht, einem Vergewaltiger zuzugestehen, dass er ein genialer Filmschaffender ist, dem man mit Blick auf seine erfolgreiche Karriere diesen oder jenen mildernden Umstand zugestehen sollte. Sie besteht vielmehr darin, sich und andere damit zu konfrontieren, dass der seit Jahr und Tag gefeierte geniale Filmschaffende immer noch ein mit internationalem Haftbefehl gesuchter Sexualstraftäter ist.

Das ist unangenehm und wirft unbequeme Fragen auf. Zum Beispiel die bereits erwähnte nach der Trennung des Künstlers von seinem Werk. Aber wenn Polanski in Venedig mit einem Film über die Dreyfus-Affäre in den Wettbewerb gehen kann und sich in flankierenden Interviews zu seinem Umgang mit "neofeministischem McCarthyismus" gar mit dem vollkommen unschuldigen und zu Unrecht verurteilten französischen Offizier vergleicht, dann ist es wohl nicht überzogen, wenn die Jurypräsidentin des Filmfestivals ihr Unbehagen äußert.

Roman Polanski will vermutlich nach all der Zeit, den Ungereimtheiten des damaligen Prozesses und der Vergebung durch sein Opfer einfach nur in Ruhe seinen Job machen und sein Leben leben. Andererseits wäre ein dreizehnjähriges Mädchen auch gerne nicht vergewaltigt worden. Es ist unsere Aufgabe zu entscheiden, was schwerer wiegt. Und wir haben viel zu lange falsch entschieden. (Nils Pickert, 8.9.2019)