Zu alten Spielen zurückzukehren bereitet vielen Menschen eine besondere Freude. Wieso eigentlich?

Foto: Blizzard

Man kann es nicht oft genug sagen: In Videospielen geht es um Emotionalität. Die Interaktivität ist das Alleinstellungsmerkmal gegenüber allen anderen Medien, und sie ist vielleicht auch verantwortlich dafür, dass die Gefühle hier im Positiven wie im Negativen oft mit Spielern durchgehen – von Wutausbrüchen und Morddrohungen auf der einen bis hin zu beglückendem Enthusiasmus und reiner Liebe auf der anderen Seite der Skala.

Videospiele sind das lukrativste Entertainment-Medium des Planeten, das sich rasend schnell weiterentwickelt – die Spiele, die vor 20 Jahren auf den Markt kamen, haben oft in vielerlei Hinsicht mit aktuellen Titeln kaum mehr etwas gemeinsam. Und doch reicht auch im schnelllebigen Milliardenbusiness das Gedächtnis der Konsumenten weit zurück. Gerade in einem Medium, das sich dank rasanter technischer Fortschritte so schnell ändert und entwickelt wie kein anderes, bekommt die Erinnerung an die "gute alte Zeit" eine ganz eigene Note. Und es wäre nicht die Spieleindustrie, wenn damit kein Geschäft zu machen wäre.

World of Warcraft

Dann doch lieber legalisieren

Dass nun etwa Blizzard mit WoW: Classic eine längst untergegangene Spiele-Ära – jene der allerersten Zeit des MMO-Riesen – wieder kommerziell auferstehen lässt, ist ebenso sehr Fanservice wie Notwehr. Die Fanbasis hatte nämlich seit Jahren mit gehackten "Vanilla"-Servern, also solchen, auf denen die zahllosen Updates, Weiterentwicklungen und Erweiterungen von WoW nicht eingespielt wurden, das unwiderstehliche Angebot für den "illegalen" Nostalgieflash auf privaten Servern im Angebot. Mit WoW: Classic gibt man also den Fans das, was sie sich zuvor illegal geholt hatten: die Rückkehr in die Vergangenheit.

Es ist eine bestimmende Eigenschaft von MMOs und auch anderer, viel jüngerer "Service Games" wie The Division, Destiny oder auch Fortnite, dass sie sich ständig weiterentwickeln. Das ist auch deshalb nötig, weil nur so das – entweder Abogebühr oder per Mikrotransaktion – zahlende Publikum gehalten werden kann. Und weil die Entwicklung des nächsten großen Dings viel Geld verschlingt, ist die Motivation, ein alterndes System mit unweigerlich schrumpfender Kundenbasis weiter am Leben zu erhalten, begrenzt – übrigens ein Albtraum für all jene, die mit der Konservierung und Archivierung der Games-Geschichte beschäftigt sind.

Videospiele sind, wie von mir an dieser Stelle vor einiger Zeit analysiert, noch immer "das Medium mit Gedächtnisschwund". Dass Blizzard WoW: Classic quasi von den Toten auferstehen lässt und für die Nachwelt präserviert, ist vor allem auch ein gutes Geschäft. Die Vergangenheit kehrt manchmal eben doch zurück – wenn es sich denn rechnet.

World of Warcraft

Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen

WoW: Classic verspricht etwas, das der alte Heraklit für unmöglich erklärt hatte: doch noch einmal in denselben Fluss steigen zu können. Doch obwohl sich in der Welt der digitalen Spiele im Unterschied zur realen Welt zwar Anfangszustände halbwegs wiederherstellen lassen, hat der griechische Philosoph natürlich dennoch recht, denn 15 Jahre später steigt nicht dieselbe, junge und unerfahrene Spielerschaft ins wie damals rauschende Gewässer, sondern Menschen, die hier schon einmal waren – und hier mindestens so sehr auf der Suche nach der eigenen Vergangenheit wie nach Quest-Items sind.

Nostalgie, und von ihr lebt die Retro-Welle, die seit erstaunlich langer Zeit die Games-Kultur begleitet, ist immer die Suche nach der eigenen verlorenen Zeit. Nach einer Zeit, in der man mehr Muße hatte, mehr Gelegenheit zum Spiel, weniger Verantwortung, mehr vor und weniger hinter sich. Es mag banal klingen, den Erfolg alter Spielkonzepte auf die Sehnsucht nach der eigenen verflossenen Jugend einzudampfen, doch jeder, der sich ohne rosa Nostalgiebrille mit erfolgreichen Retro-Spielen beschäftigt, sieht schnell ihre Unzulänglichkeiten. Und dabei ist die bescheidenere Grafik nicht einmal zentral, wie der anhaltende Erfolg von Indie-Spielen in sprichwörtlicher Retro-Pixel-Optik beweist.

Was Menschen, die ohne Nostalgie an Retro-Kultobjekte herantreten, viel mehr als veraltete Grafik stört, sind oft fehlende, heute selbstverständliche Komfortfunktionen in Steuerung und Verwaltung, etwa beim Speichern. Ähnlich unwillkommen sind damals allgegenwärtige, inzwischen lästig gewordene Gameplay-Konventionen wie der vor allem von Menschen mit erwachsenerem Zeitbudget als unverschämt empfundene Zwang zum endlosen Grind oder ein archaischer Schwierigkeitsgrad.

Damals, als Jugendlicher mit schier endloser Tagesfreizeit, hat man sich darüber gefreut, möglichst viel Spiel für sein Taschengeld zu bekommen; heute, als Jahre älterer Erwachsener mit Sehnsucht nach dem aus dem Blickfeld geratenen ehemaligen Lieblingsmedium, ist Zeit zum weitaus kostbareren Gut geworden. Und der Wunsch, sich "wieder mal wie damals zu einem guten Spiel zu setzen", wird durch die Androhung von "hunderten Stunden Spielspaß" oftmals im Keim erstickt.

World of Warcraft

Der Schmerz der Rückkehr

Umso beachtlicher, dass sich trotzdem derart viele Menschen etwa in WoW: Classic dazu bereiterklären, sich für diese Erinnerungsübung virtuell anzustellen – und zwar zuerst beim Einloggen ins Spiel und dann darin selbst. Aber klar: Es geht hier um mehr als das, was man gemeinhin ein "gutes Spiel" nennt. Sich hier einzufinden heißt, Teil einer Community zu sein, die etwas Magisches teilt: die Erinnerung an eine Vergangenheit, die man sich hier, zumindest ein wenig, zumindest für kurze Zeit, wieder zurückkaufen kann. WoW: Classic, das ist wie das größte Klassentreffen der Welt, nur dass die Teilnehmenden Angenehmeres verbindet als jahrelanger Schulalltag – nämlich virtuelle Abenteuer, alte und neue Freundschaften und – siehe oben – jede Menge Emotionen.

Millionen Menschen haben sich mit Retro-Konsolen wie dem SNES Mini letztlich keine Spielkonsole, sondern die Erinnerung an glückliche Stunden gekauft, und auch der Wiedereinstieg in ein "restauriertes" MMO wie WoW: Classic ist somit eine höchst emotionale Reise in die eigene Vergangenheit – und, eine Warnung, durchaus auch mit Schmerzen verbunden.

Das Wort "Nostalgie" verrät es: Das Wort bezeichnet nicht umsonst den "Schmerz der Rückkehr", der mit der Konfrontation mit der eigenen Vergangenheit einhergeht. Denn jeder Blick auf damals ruft die Gegenwart ins Gedächtnis, die Zeit, die seitdem verstrichen ist, die verlorene Jugend, die Menschen, die man aus den Augen oder ganz verloren hat, die Vergänglichkeit und Endlichkeit des Lebens. Ob die gute alte Zeit wirklich so gut war? Vor allem waren wir damals anders – und wenn wir diese Erinnerungsorte und -objekte besuchen, können wir uns für einen kurzen Moment vielleicht auch daran erinnern, wie sich das vielleicht angefühlt hat.

Da darf man schon mal emotional werden – und die rosa Nostalgiebrille versteckt dann eventuell das verräterische Glänzen in den Augen. Ja, man ist erwachsen geworden. Zum Glück darf man auch dann noch spielen. (Rainer Sigl, 8.9.2019)