Maurice hat keine Vorstrafe erhalten.

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Sie sei sprachlos vor Freude, kommentierte Corinne Fesseau (70) das Urteil, für das sie jahrelang gekämpft hatte. Das Gericht im westfranzösischen Rochefort hatte ihr Haustier am Donnerstag in allen Punkten freigesprochen. Der Hahn mit dem gutfranzösischen Namen Maurice, der wegen Heiserkeit und Stress nicht selbst bei der Urteilsverkündung anwesend sein konnte, darf seine Kikerikis weiter auf die Insel Oléron schmettern.

Zwei Nachbarn hatten ein Krähverbot für Saint-Pierre-d'Oléron verlangt, weil sie sich in ihrer Bettruhe gestört fühlen. Maurice hatte jahrelang den ganzen Tag "gesungen", wie seine Herrin dem Gericht erklärte; neuerdings gebe er aber nur noch zwischen 6.30 und sieben Uhr seine Töne von sich. Das ältere Ehepaar ertrug aber auch dieses frühmorgendliche "cocorico", wie es auf Französisch heißt, nicht länger.

Keine Beweise für Delikt

Das Gericht lehnte ihre Klage ab und verurteilte das Ehepaar sogar zu tausend Euro Schadenersatz. Da der Hahnenschrei nicht in Dezibel gemessen worden war, verfügten die Richter über keine Beweise für das Delikt. Im Gegenteil hoben sie die Bemühungen Madame Fesseaus hervor, den Hühnerschlag, in dem Maurice kräht, mit Eierkartons zu isolieren.

Der Fall hatte in Frankreich und darüber hinaus für großes Aufsehen gesorgt; sogar die "New York Times" schickte einen Reporter. Und das nicht nur, weil Maurice ein farbenprächtiges Exemplar des französischen Nationalsymbols ist. Fesseau, die seit 35 Jahren auf der Insel Oléron an der Atlantikküste lebt, hatte in einer Petition erklärt, es gehe – ähnlich wie bei dem Gelbwesten-Konflikt – um den Kampf von Stadt gegen Land: Immer mehr urbane Aussteiger, Rentner und andere Zweitwohnungsbesitzer zögen aufs Land – störten sich dann aber an den ländlichen Lebensbedingungen.

Angst um Tauben und Frösche

"Was würde wohl als Nächstes verboten, wenn Maurice nicht mehr krähen darf? Der Gesang der Turteltauben oder das Quaken der Frösche? Das Muhen, Blöken oder gar das Geläut der Kirchenglocken?", fragte sie, und 120.000 Franzosen unterschrieben ihre Petition.

Der Bürgermeister von Saint-Pierre d'Oléron, Christophe Sueur, veröffentlichte schon vor dem Gerichtsurteil einen kommunalen Erlass, der die "Äußerungen des ländlichen Lebens" schützt. Dazu gehören neben dem Kikeriki auch "der Schrei der Möwen, das Geräusch des Windes und unser lokaler Dialekt", wie der Bürgermeister mit beißendem Sarkasmus – und einem Unterton gegen das "gute" Französisch in der Hauptstadt Paris – erklärte.

"Nationales Kulturerbe"

Fesseau hatte in ganz Frankreich Unterstützung erhalten. In der kleinen Gemeinde Gajac in Südwestfrankreich lancierte der Bürgermeister mit dem klingenden Namen Bruno Dionis du Séjour im Juni eine Gesetzesinitiative, die darauf abzielt, den Hahnenschrei zum "nationalen Kulturerbe" zu erklären. Mit der zornigen Feststellung an die Adresse zugezogener Städter, dass die "Eier nicht auf den Blumen wachsen", machte er klar, dass die Gockel auch in Gajac für die Geflügelzucht unentbehrlich seien. Der Kulturschutz der Hähne solle den zunehmenden Gerichtsklagen wegen Lärmbelästigung einen Riegel vorschieben.

Wie so oft im Leben liegen die Dinge im konkreten Fall nicht ganz so einfach. Das gegen den Hahn Maurice klagende Ehepaar stammt gar nicht aus der Stadt; es handelt sich vielmehr um zwei pensionierte Landwirte, die selbst mit Hühnern gelebt hatten und auf Oléron einen ruhigen Lebensabend verbringen wollten. Sie hatten dem Gericht vorgerechnet, dass ihr Bett nur zwei Meter vom Hühnerstall entfernt liege. Sollten sie den Lärmpegel amtlich messen lassen, hätten sie in einem Berufungsprozess vermutlich bessere Chancen. Vorerst wurde aber nicht bekannt, ob die Kläger in die zweite Instanz gehen wollen. (Stefan Brändle aus Paris, 5.9.2019)