Die Brexit-Debatte hat in Großbritannien verbrannte Erde hinterlassen. Wie immer der Fall ausgeht, nichts ist danach wie vorher, so Philippe Legrain, Wirtschaftsberater des EU-Kommissionspräsidenten, im Gastkommentar.

Die britische Demokratie galt einst weithin als Vorbild, dem andere folgen sollten. Nun jedoch steckt sie in der tiefsten Krise seit Menschengedenken. Es geht nicht allein darum, ob das Vereinigte Königreich ohne Austrittsabkommen aus der Europäischen Union scheidet, sondern auch darum, wie stark ein einst für seine Stabilität und Mäßigung berühmtes Land in einen politischen Bürgerkrieg versinkt.

Premierminister Boris Johnson scheint entschlossen, das Vereinigte Königreich um jeden Preis am 31. Oktober aus der EU zu führen. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist in den vergangenen Tagen dramatisch gestiegen. Johnson behauptet, dass er ein Austrittsabkommen wolle, aber dass die Drohung eines Austritts ohne derartiges Abkommen erforderlich sei, um die EU zu Kompromissen zu zwingen. Aus seiner Sicht war die Einschränkung der Fähigkeit des Parlaments, einen No-Deal-Brexit zu verhindern, notwendig, um die Drohung glaubwürdig zu machen.

Sind noch alle hinter mir? Premier Boris Johnson kontrolliert in Westminster die Hinterbänkler seiner Konservativen Partei.
Foto: APA/AFP/UK PARLIAMENT/JESSICA TAYLOR

Es ist nicht auszuschließen, dass die Staats- und Regierungschefs der EU, die vom 17. bis 18. Oktober im Rahmen des Europäischen Rates zusammenkommen, aus Furcht vor der Alternative einem überarbeiteten Abkommen zustimmen könnten, das die britischen Abgeordneten dann absegnen würden. Doch stellt Johnson extreme Forderungen. Insbesondere will er den auf die Offenhaltung der Grenze zu Irland – und die Bewahrung des fragilen Friedens in Nordirland – ausgelegten Backstop nach einem Brexit nicht nur modifizieren, sondern völlig streichen. Sein wahres Ziel besteht also vermutlich darin, die "Sturheit" der EU für das Scheitern der Nachverhandlungen verantwortlich zu machen und – auch wenn dies nun vorerst gescheitert scheint – Neuwahlen zu erzwingen, auf die er sich bereits mit Ausgabeversprechungen und griffigen politischen Ankündigungen vorbereitet.

Kein Brexit-Mandat

Für den Moment aber gibt es kein demokratisches Mandat für einen No-Deal-Brexit. Das Referendum des Jahres 2016 enthielt keine Angaben dazu, wie das Vereinigte Königreich aus der EU ausscheiden würde; die Leave-Kampagne versprach lediglich, dass dies einfach, schmerzlos und durch Vereinbarung geschehen würde. Ein No-Deal-Brexit wäre nichts dergleichen.

Die Planungen der Regierung selbst gehen davon aus, dass in den Häfen nichts mehr gehen wird und dass viele Unternehmen in Konkurs gehen werden, wenn die Zölle auf britische Exporte in die EU über Nacht steigen. Es würde zu Verknappungen bei Lebensmitteln, Medikamenten und Kraftstoffen kommen. Und eine schmerzhafte Rezession würde zweifellos folgen.

Schlimmer noch ist, dass ein derartiges Ergebnis das Vereinigte Königreich von seinen europäischen Nachbarn abschneiden würde. Ein Handelsabkommen mit der EU, mit der London fast die Hälfte seines Handels abwickelt, würde nach dem Brexit auf unbestimmte Zeit zurückgestellt; selbst die Aufnahme von Gesprächen würde erfordern, dass Großbritannien den Bestimmungen des abgelehnten Austrittsvertrags zustimmt. Zudem würde böses Blut die Zusammenarbeit in Fragen der Sicherheit und der Außenpolitik gefährden. Es ist kein Wunder, dass US-Präsident Donald Trump Johnson anfeuert.

Verzögerungstaktik

Ein No-Deal-Brexit wäre auch für die EU und insbesondere für Irland schmerzhaft. Die fragile Konjunktur der Eurozone, die bereits unter dem Abschwung in China und der durch Trumps Handelskriege verursachten Unsicherheit leidet, würde in die Rezession abstürzen. Und angesichts des begrenzten Spielraums für geld- oder fiskalpolitische Impulse in Europa könnte der Schaden größer ausfallen als erwartet.

Wie also ließe sich ein No-Deal-Brexit noch verhindern?

Die bevorzugte Option der rebellierenden Abgeordneten besteht bisher darin, ein Gesetz zu verabschieden, mit dem Johnson verpflichtet würde, sich um eine weitere Verschiebung des britischen Austrittstermins zu bemühen. Doch die Verzögerungstaktik der Regierung könnte die Bemühungen der Rebellen vereiteln. Zudem könnte Johnson eine derartige Anweisung ignorieren, oder die EU könnte das Ersuchen um Fristverlängerung ablehnen, oder, was wahrscheinlicher ist, sie könnte eine derartige Fristverlängerung an Bedingungen knüpfen, die Johnson ablehnen würde.

Aber auch ein Sturz der Regierung würde nicht reichen, um einen No-Deal-Brexit zu stoppen. Die bunt gemischte Rebellentruppe müsste zugleich der Bildung einer Übergangsregierung zustimmen, die eine Brexit-Verlängerung beantragen, Parlamentswahlen ausrufen und womöglich die gesetzlichen Voraussetzungen für ein zweites Referendum schaffen würde. Zudem besteht der Vorsitzende der Labour Party, Jeremy Corbyn, ein sozialistischer Hardliner und heimlicher Brexit-Anhänger, darauf, eine derartige Regierung zu führen. Das würde erfordern, dass sich die Tory-Rebellen, die oppositionellen Liberaldemokraten und jene Abgeordneten, die aus Protest gegen Corbyns Führung Labour verlassen haben, hinter Corbyn stellen.

No-Deal-Chaos

Alternativ könnte Corbyn veranlassen, dass die Labour Party eine von jemand weniger Kontroversem geführte Übergangsregierung unterstützen würde – aber auch das ist unwahrscheinlich. Falls nicht innerhalb von zwei Wochen nach erfolgreichem Misstrauensvotum eine alternative Regierung gebildet werden kann, müssten die Rebellen darauf hoffen, dass Johnson Neuwahlen vor dem 31. Oktober verlieren würde. Johnson könnte darauf kalkulieren, dass es ihm leichter fallen würde, eine Wahl zu gewinnen, bevor das No-Deal-Chaos eintritt.

Damit bleibt nur die nukleare Option, wonach das Parlament einseitig dafür stimmt, die britische Absichtserklärung zum Austritt aus der EU zurückzuziehen. Dies ist der einzig sichere Weg, einen No Deal zu verhindern, doch ist dies ein brandgefährlicher Schritt. Viele Leave-Wähler würden dies als einen demokratiefeindlichen Putsch ansehen. Und weil er das Ergebnis des Referendums von 2016 auf den Kopf stellen würde, würde ein derartiger Schritt eine neue Volksbefragung erforderlich machen, bei der ein Verbleib in der EU oder ein No-Deal-Brexit zur Wahl stünden.

Mit Glück wird Johnsons Taktik der verbrannten Erde seine Gegner dazu bringen, ihre Differenzen zu überwinden, um einen No Deal zu verhindern. Doch ganz gleich, was passiert: Die pragmatische Mitte wird aus der britischen Politik herausgedrückt. Sowohl Brexit-Hardliner als auch erbitterte Remainer haben die einzige zur Verfügung stehende Austrittsvereinbarung abgelehnt. Und angesichts der zunehmenden Kompromisslosigkeit auf beiden Seiten hat sich der Brexit nun zu einem Kampf um Leben und Tod zwischen Absolutisten entwickelt. (Philippe Legrain, Copyright: Project Syndicate, aus dem Englischen J. Doolan, 6.9.2019)